Intensivstation

 „Hallo, können Sie mich hören, wie heißen Sie, wie alt sind Sie?“ Ach Leute, lasst mich doch schlafen, ich bin so müde. Ich gebe die gewünschte Auskunft, schlafe wieder ein.

„Hallo, können Sie mich hören, wie ist Ihr Name. Wissen Sie, wo Sie sind?“ JETZT REICHTS!!! Rede ich russisch??? Langsam werde ich sauer.
In den Nächten vor besonderen Tagen träume ich manchmal ziemlich wirres Zeugs. Meistens geht es darum, dass ich einen wichtigen Termin verschlafe oder vor einer Tour mich das Bein breche oder etwas in der Richtung. Dieser Traum ist aber ziemlich real. Ich öffne vorsichtig die Augen. Das erste, was ich sehe ist ein merkwürdiges Muster von im Kreis angeordneten Schlitzen. Später stellt es sich heraus, dass es die Ansaugöffnung einer Klimaanlage ist. Langsam dämmert es mir, dass das jetzt kein Traum ist. Dann war der Unfall auch nicht geträumt? Ich liege im Krankenhaus? Wie schwer hat es mich erwischt?

Ein grün gekleideter Mensch steht vor mir und redet in einer Mischung aus lateinisch und badisch auf mich ein. Ich erfahre irgendetwas über eine 10-stündige Notoperation, provisorische Einrichtungen, weitere Operationen. Nach einer Weile wird mir klar, dass er über mich redet und frage genauer nach. Also, meine Hand war nicht ab, sondern Elle und Speiche am Handgelenk abgebrochen. Dadurch sah das so aus, als würde die Hand am Unterarm baumeln. Hat sie ja eigentlich auch! Ist aber alles soweit mit Platten und Schrauben wieder an Ort und Stelle. Zwei Finger hat man wieder replantiert, die müssten aber gut anheilen. Die Zunge hatte ich mir abgebissen. Man hat aber fast alles wieder gefunden und zusammengenäht. Ein Stück hat man bewusst verkehrt herum eingenäht, um den Hauptzungennerv zum Wachstum anzuregen.

Um es vorweg zu nehmen, es hat funktioniert. Ich kann die Zunge fast wieder so gebrauchen, wie vorher. Hat aber ein paar Monate gedauert.

Die multiplen Rippenbrüche (multipel, soso) und die Lungenprellung würde man konservativ behandeln. Hört sich ja toll an, konservative Behandlung. Das heißt im Klartext, man macht nix, es heilt so. Oder nicht. Bei mir hat es so geheilt. Tut aber beim Wetterwechsel immer noch weh.

Das Beste hat er sich für den Schluss aufgehoben. Aber irgendwie habe ich es ohne das herum Gerede schon gewusst.

Der 9. Brustwirbel ist gebrochen und der 10. Brustwirbel ist zertrümmert. In der Not-OP wurde erst einmal der Druck davon genommen. In einigen Tagen wird mit Material aus der Hüfte der 10. Brustwirbel wieder aufgebaut, der 9. heilt so. Aha, konservative Behandlung. Scheint in meinem Fall der Renner zu sein. Inwieweit das Rückenmark verletzt ist, kann man noch nicht sagen. Die beiden Wirbel waren aber eineinhalb Zentimeter gegeneinander verschoben.


Das hörte sich erst einmal jetzt nicht so dramatisch an. Ich fand aber bald heraus, dass der Spinalkanal, durch den das Rückenmark läuft, ca. 8 mm Durchmesser hat. Die Verschiebung war also das Doppelte des Spinalkanaldurchmessers. An der Stelle hörte ich erst einmal auf, zu denken. Irgendwie kam mir das Bild eines Kabelbaums in den Sinn, der in einem Rohr verlegt ist. Irgendwer hat jetzt beim Übergang in ein anderes Rohr dieses andere Rohr seitlich um das Doppelte seines Durchmessers verschoben, also zwei Mal scharfe Kante – Hmmm.

 

 

Ich versuchte mit den Zehen zu wackeln, hatte auch das Gefühl, dass die Zehen noch da sind, aber ich bekam keine Rückmeldung. Ich konnte mich auch nicht aufrichten, um nachzusehen. Also fühlte ich mit der Hand nach, ob meine Beine noch da sind. Ich konnte zwar mit der Hand meine Beine spüren, aber an den Beinen konnte ich die Hand nicht fühlen. Und dann diese furchtbaren Rückenschmerzen! Sobald ich auch nur einen Piepser von mir gab, war sofort jemand da und spritzte etwas in meinen Infusionsschlauch oder in den Zugang, den man mir an der linken Brustseite gelegt hatte. Das also ist eine Querschnittslähmung. Jetzt habe ich es ausgesprochen! Querschnitt.

Querschnitt – Ich bin gelähmt! Ich! Das passiert doch nur anderen! Das ist bestimmt ein Irrtum. Oder nur vorübergehend. Ach ja richtig. Deshalb die provisorische Not-OP. Die Richtige kommt ja in ein paar Tagen.

Dann kann ich auch bestimmt wieder laufen...

Jaja, die Sache mit dem Laufen. Wenn ich damals gewusst hätte, dass das nicht Laufen das Wenigste dabei ist und was sonst noch alles hinterher kommt, ich weiß nicht, ob es diesen Bericht gäbe. 

Und ohne meine Familie gäbe es diesen Bericht mit Sicherheit nicht! An dieser Stelle muss ich unbedingt für meine Familie eine Lanze brechen. Sie hat mich auf der Intensivstation in Karlsruhe täglich besucht, und in der Querschnittsklinik mehrmals pro Woche. Ich schreibe diese Zeilen knapp 10 Monate nach dem Unfall. Ich bin jetzt in der Reha im Schwarzwald. Bisher war ich noch nicht zu Hause gewesen. Aber jeden Sonntag ist meine Familie hier! Egal, wie es mir geht. Und ich fahre seelisch nach wie vor kräftig Achterbahn. Diese Unterstützung hat mir mehr geholfen als jedes Medikament und alle Therapien. Sie geben mir einfach das Gefühl, sie sind da. Gewaltig! Etwas anderes trifft es nicht. Egal was ist, sie sind da. Schlicht, einfach – die beste Medizin der Welt.

Ohne meinen Helm gäbe es diesen Bericht übrigens auch nicht. Am Kinnschutz war ein deutlicher Abdruck des Schalthebels, an der Rückseite hat sich Renates Helm eingeprägt. Und die Vorderseite – ja die hatte innigen Kontakt mit der Mauer und sah entsprechend aus. Tja, wäre ich auf die Idee gekommen, meine Protektorjacke anzuziehen… Aber wer fährt schon Trike mit einer Protektorjacke. Freunde, eines habe ich gelernt: Ein guter Rückenprotektor ist mindestens genauso wichtig, wie ein guter Helm.

Aber zurück zu meiner Geschichte: 
Renate war nach dem Unfall die paar hundert Meter nach Hause gelaufen, hatte die Taschen abgestellt, die wichtigsten Telefonate geführt und war in die Klinik nachgekommen. Wo sie schon mal da war, ließ sie sich auch gleich untersuchen. Zum Glück war sie mit einem gesplitterten Mittelfußknochen davongekommen. Sie bekam ein paar Krücken, sorry Unterarmgehstützen verschrieben. Der Bruch wurde konservativ behandelt. Als sie gegen Abend entlassen wurde, sagte man ihr, ich würde gerade in den Aufwachraum geschoben, sei soweit stabil und sie solle erst einmal nach Hause gehen und am nächsten Tag wiederkommen.

Kurz gesagt, an die Tage und Wochen auf der Intensivstation erinnere ich mich nur noch mühsam durch einen rosigen Nebel. Irgendwann wurde ich noch einmal operiert. Man verwendete eine Technik, die angeblich schonender für den Körper wäre. Durch ein kleines Loch an meiner Seite wurde ein Gas in mich gepumpt. Dann wurde durch ein weiteres Loch eine Optik geschoben. Durch noch ein Loch kamen dann die Instrumente hinein. Und wieder ein Loch diente dann als Abfluss für Blut und andere Körperflüssigkeiten. Mit Material aus meiner Hüfte wurde der 10 Brustwirbel ergänzt. Die Bandscheibe zwischen dem 9. und 10. Wirbel wurde entfernt und die beiden Wirbel miteinander verschraubt. Alles wieder raus, Löcher zukleben, fertig.

 „Hallo, können Sie mich hören?“ Schon wieder…

 „Was können Sie in Ihren Beinen fühlen?“ Also, Bestandsaufnahme, was hat die OP bewirkt?
Vorher spürte ich ab dem Nabel abwärts nichts mehr. Jetzt spüre ich ab dem Nabel abwärts nichts mehr.
Vorher fühlten sich meine Beine überhaupt nicht an. Bei meinen Füßen hatte ich das Gefühl, als wären sie in einem Gel gelagert. Mit viel Anstrengung hatte ich das Gefühl, meine Fersen ein wenig hin und her bewegen zu können. Jetzt – nichts. Gar nichts. Obwohl, das Gel war weg, dafür spürte ich Eisen. Die Beine bis zu den Füßen hinunter waren in Eisen eingespannt und das Eisen richtig fest angezogen.

Und dann ging es los! Nachdem der Weg frei war, kamen von der Bruchstelle in meinem Rücken irgendwelche Impulse beim Gehirn an. Mein Kopf versuchte, diese vermeintlichen Informationen irgendwie zu verarbeiten. Plötzlich hatte ich das Gefühl, mein linkes Knie schmeckt grün. Die rechte kleine Zehe tropfte Feuer. Meine Fersen waren Kaugummi, und kauten sich selbst. Plötzlich kamen hunderte von diesen total verdrehten Informationen in meinem Kopf an. Ich zitterte am ganzen Körper, schrie laut um Hilfe, begann wild mit meinem gesunden Arm zu rudern. Die Ärzte spritzten mir ein Mittel, mit dem man Halluzinationen bei Geistesgestörten behandelt.

In der nächsten Nacht bat ich um ein Schlafmittel. Dummerweise wirkte das so gut, dass meine Atmung beeinträchtigt wurde. Zum Glück funktionierten meine Reflexe in diesem Bereich noch, so dass ich aufwachte. Jetzt lag ich da, voll Panik und traute mich nicht mehr einzuschlafen. Irgendwann schlief ich dann gegen morgen doch ein. In dieser Nacht geschah nichts mehr. In der Nacht darauf träumte ich, dass meine Freunde sich einen Spaß daraus gemacht hätten, mir ein Mittel zu verabreichen, das eine vorüber gehende Querschnittslähmung simuliert. Ich wurde wach, als die Nachtschwester meinen Kathederbeutel leeren wollte. Jetzt bekam die arme Frau den ganzen Segen ab. Ich stauchte sie nach allen Regeln der Kunst zusammen, was ihr denn einfallen würde, als examinierte Krankenpflegerin bei so einem üblen Scherz mit zu machen. Die arme wusste überhaupt nicht, wie ihr geschah. Am nächsten Abend, als sie ihre Schicht antrat, entschuldigte ich mich bei ihr. Sie erklärte mir, dass frische Querschnitte auf die unterschiedlichsten Arten auf die Verletzung reagieren würden und ich mir keine Gedanken machen solle.

Langsam bekam ich Angst vor den Nächten. Ich legte mich regelmäßig nachts mit dem Pflegepersonal an, wurde ein richtiges Ekel. Tagsüber versuchte ich, mit ausgesuchter Höflichkeit mein Verhalten zu kompensieren. Eines Nachts wurde ich wach, verlangte nach dem Bereitschaftsarzt. Ich war der festen Überzeugung, man habe mich mit einem falschen Betriebssystem reanimiert. Ich verlangte von dem armen Kerl, er möge mir doch die Knoppix-CD entfernen und mich in mein altes Betriebssystem neu zu booten. Zum Glück war der Bereitschaftsarzt computertechnisch einigermaßen bewandert und konnte mir mit einer kräftigen Dosis des bewährten Paranoiamedikaments zu einer ruhigen Restnacht verhelfen.

Ich glaube wir alle waren froh, als ich endlich in eine Spezialklinik für Querschnittsverletzte in die Nähe von Karlsruhe verlegt wurde