Allein Einkaufen

 

Unsere Jugend liegt noch im Koma. Na ja, in dem Alter war vor dem Mittagsläuten mit mir auch nicht allzu viel anzufangen. So kommen wir an einem Samstagmorgen nicht so ganz unverhofft zu einem Frühstück zu zweit.

Langsam wird es Zeit, einen neuen Schritt in Richtung Normalität zu wagen. In unserem neuen Heimatortort gibt es einen neuen Großmarkt. Der liegt am anderen Ortsende. Es ist Samstag vormittag, die Sonne scheint, ein paar Wolken sorgen dafür, daß es nicht zu heiß wird. Das sind doch ideale Voraussetzungen für einen kleinen Einkaufsbummel im Alleingang.
Mit einem leisen Lächeln rolle ich aus der Hofeinfahrt. Ich bin gespannt, was dieser Vormittag wieder für neue Erkenntnisse bringt. Den Weg zu dem neuen Supermarkt muß ich selbst finden. Mit dem Auto wüßte ich, wie ich hinkomme. Aber wie hat ein Freund immer gesagt, einfach kann jeder.

Den Bahnübergang packe ich diesmal, ohne daß es mich fast aus dem Stuhl haut. Was war anders? Diesmal habe ich die Gleise in einem steileren Winkel genommen.
Merken!

Danach geht eine kleine Gasse rechts rein. Für eine Grundstückseinfahrt ist sie zu groß. Ein Straßenschild kann ich nicht sehen. Ich muß mich ungefähr in Richtung der Sonne halten und genau in diese Richtung geht das Gäßchen. Schauen wir mal, wo das hier hinführt.
Ganz undramatisch hört das Gäßchen in einem Wendehammer auf. Na toll! Wie ich umdrehen möchte, sehe ich einen schmalen Durchgang. Erst denke ich, daß es ein Grundstückszugang ist, aber da ist ein rot-weißer Pfosten. Normalerweise ist das eine Sperre damit da nur Fußgänger durchkönnen. Aber Privatleute stellen sich sowas nicht hin. Der Gehweg ist nicht besonders hoch, rückwärts komme ich da rauf, durchpassen tu ich auch, also weiter geht’s.
Ich komme in einer ziemlich neuen Siedlung heraus. Schön ist, daß man abgesenkte Seitenparkplätze eingerichtet hat, da komme ich an den Stirnseiten prima vom Gehweg auf die Straße und auf der anderen Seite wieder hoch.
Kaum habe ich’s gedacht, da komme ich an eine Stichstraße ohne Gehweg. Die Richtung stimmt, also fahre ich auf der Straße weiter. Am Ende ist wieder ein Durchgang, der zu einer weiteren Straße führt.
Die Straße bin ich schon mal gefahren! Da vorne in dem Prachtbau wohnt ein früherer Vermieter. Wenn er da noch wohnt, ich habe gehört, er hätte in letzter Zeit ein wenig Pech gehabt. Hoffentlich richtig Pech, so wie er uns - aber das gehört hier nicht hin, das war in einem früheren Leben.
In der übernächsten Seitenstraße wohnen die Eltern von einem Bassisten, der auch ne spitzen Soloklampfe drauf hat. Oder Gitarrist, der auch Bass spielt? Das lange Elend hab ich auch schon ewig nicht mehr gesehen. Da haben wir schon etliche Biere getötet. Ich weiß wieder, wo ich bin. Dort vorne gehts auf die Hauptsraße raus und da müßte dann auch gleich der neue Markt sein.
Bingo! Und direkt davor ist eine Verkehrsinsel, damit so ein armer Rollstuhlfahrer wie ich nicht mit Vollgas über die ganze Straße rüber muß. Eigentlich ist es ja ein Fahradüberweg, aber ich hab ja schließlich auch Räder.

Rollstuhleinkaufswagen gibts keine. Dann muß ich eben auf die Beine stapeln. Kauf ich auch nicht soviel.
Mmmh, Cranberrysaft in der Glasflasche - in den Rucksack. Da kommt noch eine Flasche Dornfelder Rosé dazu. Letztens hat jemand eine Flasche Dornfelder Weißherbst mitgebracht. Dornfelder trinke ich gern, Weißherbst auch, beides zusammen kannte ich noch nicht. Ist aber lecker, ein bisschen süß für meinen Geschmack, aber durchaus trinkbar. Werden wir gleich heute abend antesten, wie der Rosé ist. Weißherbst, Rosé, Obs da einen Unterschied gibt? Vielleicht an der Art, wie der gekeltert wird. Oder sind das einfach verschiedene Schreibweisen? Muß ich mal nachschauen.
Ah, Peperoni mit Frischkäse gefüllt - auch nicht schlecht...

“Du Mama, warum hat den der Mann da so einen komischen Wagen. Ist das ‘n Kinderwagen?” Der Stimme nach kann die Kleine höchstens 4-5 sein. “Siehst Du, das passiert, wenn man seinen Teller nicht leer ißt.”
Wie bitte? Ich glaube, ich höre nicht richtig. Das gibt’s doch auf keinem Schiff!
Da kommt sie auch schon um die Ecke walkürt. Aber hallo, ich glaube mit diesem Stück Mensch wäre selbst Rubens überfordert gewesen. Das sind mal locker 300 Pfund Lebendgewicht - auf knapp 170 cm verteilt. Im Schlepptau ein Mädchen im Vorschulalter, zu einer beginnenden Fettleibigkeit neigend. Mit einer 3-wöchigen Kur ist die Kleine bestimmt noch zu retten.

Na warte, Dich kriege ich! Dem armen Kind so einen Mist zu erzählen - von wegen Teller nicht leer essen. Die spinnt wohl!
An der Kasse kommt meine Chance. Mutter drängelt sich vor mich, benutzt routiniert ihren voll gefüllten Einkaufswagen, um mich aus dem Weg zu drängen. Ihre Tochter steht jetzt direkt vor mir. Während die Mutter mißmutig ihre Einkäufe aufs Band stapelt, versucht die Tochter, so zu tun, als würde sie nicht neugierig zu mir sehen. Irgendwie tut mir die Kleine leid. Unter den feisten Wangen scheint sogar ein ziemlich hübsches Gesicht zu stecken. Irgendwann begegnen sich unsere Blicke. “Du sag mal, hast Du wirklich Deinen Teller nicht leer gegessen?” Kinder sind eben wißbegierig. Die Steilvorlage muß ich annehmen! “Mmh, nicht so ganz. Eigentlich mußte ich immer meinen Teller leer essen. Meine Mutter hat ihn auch immer so richtig voll gemacht. Dann hat sie gesagt, ich muß groß und stark werden. Ja und irgendwann, da war ich so schwer, da konnten meine Beine das Gewicht von meinem Körper nicht mehr halten.”
Ich bin schon gemein.
Die Kleine neigt vielleicht zum Übergewicht, aber sie macht einen ganz pfiffigen Eindruck.

Die Kassiererin verlangt 24 Euronen von mir. Für 2 halbe Pfund Butter, die ich mitbringen sollte und ein bisschen Knabberzeugs ganz schön heftig. OK, da war schon noch ein bisschen mehr dabei. Ist schon beeindruckend, was man mit der richtigen Stapeltechnik so alles auf seine Knie packen kann. Mal sehen, wie ich das jetzt alles nach Hause kriege.

Die beiden Flaschen kommen in den Rucksack, der Rest kommt in eine Plastiktüte, die ich mit dem Beingurt auf meinen Knien sichere.

Beim Herausrollen höre ich eine Kinderstimme, die mir ziemlich bekannt vorkommt aus Richtung Behindertenparkplatz.
Woher auch sonst.
“Und der Mann mußte auch immer seinen Teller leer essen.” Genau der Diskant, der bei Eltern die Nackenhaare steigen läßt.
“Und seine Mama hat ihm auch denn Teller immer so voll gemacht”
Schade, daß ich mich jetzt nicht umdrehen kann.
“Und wenn er satt war, dann hat seine Mama gesagt, daß er den Teller trotzdem leer essen muß. Und dann hat er auch immer geweint”
Heh, die Kleine ist ja richtig kreativ.
Ich höre noch etwas von ‘andere Kinder’ und ‘ausgelacht’.
Dann bin ich zu weit weg.

Und los gehts, wieder Richtung Heimat.
Direkt nach dem Fahrradüberweg liegt die Plastiküte auf meinem Fußbrett und der Inhalt ist malerisch über den Fahradweg verteilt. Zum Glück kommt eine junge Mutter mit ihrer Tochter dahergeradelt. Die dürfte so ziemlich das Alter von der Kleinen eben haben.
“Oh,” und schon ist die Mutter abgestiegen, “Darf ich Ihnen helfen?”
Aber Gerne.

Ganz unbefangen sammelt die Tochter meine Sachen ein, drückt sie der Mutter in die Hand. Diese verstaut so viel wie möglich in meinem Rucksack. In die Einkaufstüte kommt der ganze Kleinkram. Ich ziehe die Schlaufen der Tüte durch meinen Beingurt und stelle sie auf meinem Fußbrett ab.
“Vielen Dank” “Aber selbstverständlich” und schon sind die beiden wieder verschwunden. Die hatten entweder schon Erfahrung mit Rollstuhlfahrern, oder sie waren einfach so nett und hilfsbereit.
Oder beides, jedenfalls ist mein Glaube an die Menschheit wieder hergestellt.

Ups - mein Rucksack ist so schwer, daß meine Vorderräder bei jedem Schub hochgehen. Aber meine liebste Rollstuhlsachverständige hat sich sowas schon gedacht. Sie kennt mich schließlich lange genug und hat mir den Kippschutz drangemacht. Ich rutsche im Sitz ein wenig nach vorne und sehe zu, daß ich den Heimweg wiederfinde.

Mit der veränderten Straßenlage ist das Hochfahren auf die Bürgersteige gar nicht mehr so einfach. Einmal muß ich sogar einen Umweg fahren, bis ich zu einer Stelle komme, wo der Gehweg etwas abgesenkt ist. Eine Zeit lang bleibe ich einfach auf der Straße. Diese kleinen Gäßchen, die Stichstraßen und die Durchgänge bilden ein nettes Labyrinth. Gemein sind die Ringstraßen. Wenn man da nicht aufpaßt, hat man schnell mal ne zweite Runde gedreht. Kann natürlich auch sein, daß die Architekten beim Bau der Siedlung kräftig bei sich selbst abgeschrieben haben.

Zieht das in den Armen! Ich glaube, ich habe mich ein ganz klein wenig verfahren. Da ist ein Durchgang mit einem rot-weißen Pfosten. Ha! Ich bin wieder im Rennen. Da bin ich auf dem Herweg auch vorbei gekommen. Jetzt kenne ich mich wieder aus.

Die letzte Hürde kommt dort, wo ich sie überhaupt nicht vermute. Ich stehe vor unserer Haustür. Die Klingel ist drei Stufen von mir entfernt. Ich fahre ums Haus herum. Das Küchenfenster steht offen.
HAAAALOOOO!
Komme schon!
Ich bin zu Hause.

Ich muß mir angewöhnen, das Haus nie ohne Handy zu verlassen. Diesmal hatte ich es dabei, habs aber nicht gebraucht. Eigentlich brauche ich es meistens nur, wenn ich es nicht dabei habe.

Das ist wie mit dem Regenschirm.


So, jetzt habe ich nachgesehen: Wenn ich eine rote Traube wie eine weiße keltere, dann erhalte ich einen Rosé, weil dann nicht so viel roter Farbstoff aus der Schale in den Wein kommt. Ist der Rosé nur von einer Rebsorte und mindestens Qualitätsstufe QBA, dann darf er sich Weißherbst nennen.