Mittwoch

Es geht mal wieder nach Hause. Eigentlich sollte das ja eine ganz normale Sache sein. Ich bin mal wieder so aufgeregt, wie damals als Gymnasiast vorm ersten Treffen mit den Mädels aus dem Lyzeum.
Irgendwie bringe ich vormittags noch den Unterricht rum. Toll, jetzt habe ich noch nen Authentifizierungsfehler bei der Anbindung an den Datenbankserver fabriziert. Zum Glück habe ich mir ne Hintertür eingebaut, da kann ich mich wieder reinlassen in den Server. Mach ich gleich ne Übung draus. Schaunmermal, ob wir das, was wir in der Theorie so gelernt haben, auch bei einem echten Fehler anwenden können.

Endlich Mittagspause, Essen, Kathedern, Entlasten, dann muß ich meine Sachen zusammensuchen. Einweisungsschein, Arztbrief, Medikamente checken, schließlich bin ich 5 Tage weg...

Ein Blick aufs Handy, oh je, 3 verpatzte Anrufe daneben die Nummer von meiner liebsten Gesprächspartnerin. Gleich zurückrufen, hoffentlich nix Schlimmes.

Während ich darauf warte, daß das Desinfektionsmittel wirkt, drücke ich auf Rückruf. “Hallo?” “Ich wollte nur sagen, ich bin früher losgekommen, bin gleich da”.
PANIK! ich hab noch nix gepackt, liege da, in einer Hand das Handy, in der anderen den scharfgemachten Katheder - Jetzt aber los!
Wenigstens schaffe ich es noch, mich zu kondomieren, bevor Sie mit ihrem breiten Grinsen, das ich so liebe, durch die halb geöffnete Tür spitzt.
“Ja wie, Du liegst noch in der Koje?”
Was dann kommt, können glaube ich nur Frauen. Meine jedenfalls ist da perfekt drin. Mit einer Hand holt sie mich aus dem Bett in den Rollstuhl. Mit der anderen Hand packt sie meine Klamotten zusammen, mit einer anderen Hand schnappt sie sich meine Dreckwäsche, mit noch einer anderen Hand checkt sie noch mal meine Pflegeutensilien. Irgendwie sieht das so leicht, so selbstverständlich aus. Ich nehme meine seit 3 Tagen sorgfältig geführte Checkliste und lasse sie unauffällig im Papiermüll verschwinden.

Und schon sind wir unterwegs Richtung Autobahn.

Zu Hause herrscht Ausnahmezustand. Meine Tochter hat Jahresabschlußfeier in der Schule. Eltern mit heranwachsenden Töchtern wissen, was ich meine, den anderen möchte ich die Überraschung nicht verderben.

Meine Frau setzt ihre Leidensmiene auf. Dem Vatta gehts ja sooo schlecht, aber geh du nur zu deiner Feier, ich kann halt nicht mitkommen.
Unsere Tochter trägt’s mit Fassung, ganz der Vater eben. Schließlich singt sie heute abend und hätte sich gefreut, wenn wenigstens ihre Mutter das gesehen hätte.
Ich weiß zwar noch nicht so genau, was meine liebste Kindererzieherin so vorhat, aber ich spiele vorsichtshalber mal mit. Leidensmiene hab ich auch gut drauf.

Die Haustür ist noch nicht richtig zu, verschwindet meine bessere Hälfte im Schlafzimmer. “Schau mal, kann ich das anziehen?” Aha, jetzt klärt sich das Ganze. Wir gehen wohl doch hin. Durch den frühen Abmarsch kam ihr Timing etwas durcheinander, eigentlich hätte die Jugend mich gar nicht sehen sollen. Improvisation ist eben alles.

Das Gesicht unserer Tochter ist sehenswert, als ich da plötzlich auf den Hof rolle. Das wir jetzt plötzlich beide da stehen, das ist ihr ungeheuer wichtig.
Gut merken, das.

Eine Schülerin sitzt ebenfalls im Rollstuhl. Oh, denke ich bei mir, hier wird integriert, feine Sache das.
Ganz schnell stelle ich fest, daß hier mal wieder ein Vorzeige-Rolli kreiert wurde. Eine Alibi-Rollstuhlfahrerin, fest in Watte gepackt.
Von vorne bis hinten bedient, vorgezeigt, nee, vorgeführt, wie ein dressierter Affe. Eine unglückliche Diva.
Schaut mal her, wie toll und integrativ wir sind. Und das ist noch nicht einmal böse gemeint . Hallo, habt ihr eigentlich kapiert, worum es hier geht?
Laßt doch das arme Kind um Himmels willen Mensch sein, laßt sie ihre eigenen Erfahrungen machen. Die muß sich ab und zu mal ne blutige Nase holen, damit sie wenigstens ein bisschen Ahnung kriegt, was auf sie zu kommt. Und damit umgehen kann.

Zum Glück sind auf dieser Schule Menschen, die mit Rollstuhlfahrern umzugehen gelernt haben. Die werden sich der Sache schon annehmen.

Eigentlich kann es mir ja egal sein, ich hab morgen einen Termin.