Anekdoten

Durch meine neue Situation sehe ich die Welt mit anderen Augen. Das Leben kann so witzig sein. Du mußt nur richtig hinsehen und hinhören.

Der Para
Ich lese gern und viel. Am liebsten Science Fiction.
In dem Genre gibt es häufig Protagonisten, die übersinnliche Fähigkeiten haben. Sie können Gedanken lesen, Dinge bewegen, sich selbst an andere Orte versetzen oder irgendwelche anderen Kunststückchen.
Manchmal sind es Menschen, manchmal Außerirdische, je nach Fantasie des Autors. Diese Spezialisten nennen sich meistens Paras, von parapsychisch begabt.

Beim Lesen kam mir es oft in den Sinn, es wäre doch schön, auch ein Para zu sein.

Jetzt bin ich Paraplegiker, abgekürzt Para.

Ein arabisches Sprichwort sagt:
“Bedenke, worum Du betest. Du könntest es bekommen!’

Perfekter Service...
Ich bin wegen der Blasenlähmung nicht mehr ganz dicht. Ist halt so. Manchmal kann ich das mit einer Einlage abfangen, manchmal brauche ich ein Urinal-Kondom. Die Dinger werden angeklebt. Vorher wird noch ein Hautpflegemittel aufgetragen. Sobald das getrocknet ist, kann das Kondom geklebt werden. Durch meine Bewegungseinschränkung kann ich das (noch) nicht selbst machen...
Schwester vom Frühdienst ist leicht im Stress, weil 4 Patienten gleichzeitig aufstehen wollen. Wie üblich, will das doofe Hautpflegemittel mal wieder nicht trocknen. Was tut die gute Hausfrau, wenn etwas schnell trocken werden soll? Drauf pusten! Auf meinen leicht irritierten Blick meint sie im schönsten Plauderton:
Siehst Du, jetzt kriegt Du vor dem Frühstück noch einen geblasen. gehört alles zum Service hier.

Die Nudel
Ich geniesse die morgendliche Wassergymnastik. Durch das viele Metall in meinem Rücken und die fehlende Beinkontrolle brauche ich aber momentan noch eine Schwimmhilfe. Diese Schwimmhilfe sieht aus, wie eine große Nudel und wird auch von den Therapeuten Schwimmnudel, kurz: Nudel, genannt. Manche Therapeuten unterstützen mich an der Schulter, manche an den Rippen, um mich über Wasser zu halten. Meine Stammtherapeutin packt mich meistens an der Schwimmhilfe.
Abends telefoniere ich mit meiner Frau. Ich erzähle ihr, dass mich manche hier, andere andere da halten, um mich zu unterstützen. “Und Deine Stammtherapeutin?”
“Die zieht mich an der Nudel durchs Wasser...”

Lecker Popcorn
Ab und zu sehen wir uns gemeinsam Filme an, so richtig mit Leinwand und Popcorn. Der Zivi versteht es, so richtig Kinoathmosphäre zu schaffen. Der letzte Kinoabend vor den Feiertagen. Der Zivi verteilt Popcorn aus großen Eimern. Jeder bekommt so viel, dass die angebrochenen Eimer alle leer sind. Eine Patientin kommt mal wieder etwas später. Großer Auftritt, und so... Man muß dazu sagen, die Gute ist auch leicht übergewichtig. “Oh, Popcorn, krieg’ ich auch was?” Mit leicht säuerlichem Lächeln öffnet der Zivi doch noch mal einen Eimer. Toll, jetzt habe ich über die Feiertage doch noch einen angebrochenen Eimer, den kann ich bis zum nächsten Kinoabend wegwerfen. Irgend etwas in dieser Richtung geht unserem armen Zivi durch den Kopf. Mit einem strahlenden Dankeschön nimmt unsre Freundin dem entsetzten Zivi den ganzen Popcorneimer aus der Hand.
Als das Licht wieder angeht, stellen wir zu unserer Verblüffung fest, daß die Sorge unseres Zivis, das Popcorn aus dem angebrochenen Eimer könnte über die Feiertage schlecht werden, unbegründet war...

Während ich hier tippe, sagte gerade der Rundfunkmoderator:
“Da kommst Du nach Hause, willst Dich auf die faule Haut legen - und da ist die Einkaufen...”

Geht’s?
Ich will in den Aufzug, sagt ein Fußgänger: “Geht’s denn?” Abgesehen davon, daß dieser Ausdruck im Ländle geradezu exzessiv gebraucht wird, einem Rollstuhlfahrer gegenüber finde ich ihn irgendwie unpassend. Meine private, unbedeutende Meinung. Jedenfalls packt mich der Schalk und ich lasse einen flammenden Monolog darüber vom Stapel, daß “Geht’s” einem Rollstuhlfahrer gegenüber von fehlendem Fingerspitzengefühl zeugt, etc und blablabla. Man solle doch besser klappt’s oder alles OK oder etwas in der Art sagen. Fußgänger wirkt leicht überfordert und quält sich ein verzagtes ‘Alles in Ordnung?’ heraus.
Mit einem fröhlichen “Es geht so” verlasse ich den Aufzug, der gerade in meiner Etage hält.

Das neue Bett und die Transportsicherung
Mein Bett läßt sich nicht auf Rollstuhlniveau herunterfahren, ich bekomme ein neues. So ein High-Tech-Teil, mit allem Schnickschnack. Da sind auch geteilte Bettgitter dabei, die, wenn man sie nicht braucht, unauffällig unter dem Bett versenkt werden. So ein Bettgitter ist eine gute Idee, wenn man keine Kontrolle über seine Beine hat. Wenn beim Umdrehen mal ein Fuß aus dem Bett rutscht, dann kann schon mal das Bein nachrutschen. Ja, und am anderen Ende vom Bein hänge ich. Platsch - Pflege darf mit Tuchlifter antraben und mich wieder vom Boden aufsammeln.
 Bei dem neuen Bett kann ein Beingitter ausgeklappt werden - wenn man die Transportsicherung vorher entfernt, wie gesagt, neues Bett. Gemeinerweise besteht diese Transportsicherung aus einem schwarzen Kabelbinder. Dieser ist so angebracht, als gehöre er dort hin. Noch gemeiner ist, daß das Gitter in sich zusammengefaltet ist, statt , wie gewöhnlich, teleskopartig zusammengeschoben.
Schwester vom Spätdienst will das Gitter rausklappen. Ich merke, das war bisher nicht ihr Tag und ihr Nervenkostüm ist schon ziemlich angegriffen. Zu allem Übel ist der neue Bettentyp auch für sie neu. Sie zieht, das Gitter bewegt sich keinen Millimeter. Stirnrunzeln, aha, das muß erstmal entriegelt werden. Aber wo ist der Riegel? Langsam schieben sich die Mundwinkel nach unten. Hm, das müßte er sein. Klick, das Gitter kommt eine Hand breit heraus, das war’s. Eine zarte Röte überzieht ihr Gesicht.
Ich kann Sie ja verstehen, da soll man vor den Patienten professionell sein und da kommt so ein doofes Gitter kurz vor Feierabend...
Eigentlich ist sie ja ne ganz liebe und hat’s auch fachlich drauf, aber es gibt halt solche Tage.
Ich versuche ein zaghaftes “Transportsicherung?”, erreiche aber nur, daß die leise Röte kräftiger wird.
Gitter wieder rein, klick, also die Verriegelung funktioniert.
Gleich platzt sie.
Ich versuche so zu tun, als sei ich gar nicht da.
Riegel auf, Gitter eine Hand breit raus. Hm, da ist noch ein Knopf, das Gitter faltet sich ein winziges Bißchen auf, klemmt wieder.
Sie beginnt, an dem Gitter zu rucken, fängt sich aber sofort wieder. Alle Achtung, da hat sich aber jemand im Griff!
Das Knurren, das sie jetzt von sich gibt, erinnert mich an eine Bärin, die ihr Junges in Gefahr sieht.
Ein Druck auf den Knopf der Rufanlage. “Ja Bitte?” “KOMM HOCH!”
Die Kollegin ist in Lichtgeschwindigkeit da. “DAS GEHT NICHT!”
Die Kollegin bückt sich, schaut, leiht sich mein Taschenmesser aus, schnipp, klick. Das Gitter sitzt da, wo es sitzen soll. “Wars’s das? OK.” Weg ist sie wieder.
Die Schwester ist wie verwandelt. Mit einem breiten Grinsen steht sie da, als wäre das ein Riesenspaß für sie gewesen. “Hach, das hat jetzt richtig gut getan.” Und läßt mich mit offenem Mund zurück...

2 + 1 = 3, oder?
Bewegungsabläufe immer wieder wiederholen, sprich üben, ist bei Musikern, Sportlern, etc. sehr beliebt. Ich kann mich noch erinnern, wie ich das Vokabel Pauken “geliebt” habe. Doch nicht in jeder Situation ist das richtig.
Ich habe beim Kathedern gelernt, 2 Einmal-Waschlappen bereit zu legen, um mir vorher und hinterher die betreffenden Stellen zu säubern. Ich selbst verwende 3 Stück, damit ich mir hinterher auch die Hände waschen kann. Nicht immer hat man ein Waschbecken in Reichweite.
Ich liege mal wieder im Bett, Schwester hilft mit bei der Vorbereitung. Ich bitte um 3 Waschlappen, bekomme 2.
Jedes Mal.
Irgendwann mache ich mir den Spass und bitte um 2 Waschlappen und noch einen.
Schwester bringt 3.
Jedes Mal.
Mein Zimmernachbar fällt fast aus dem Bett.
Nein, ich sage nicht, was sie für eine Haarfarbe hat, sonst heißt es noch, ich würde Klischees schüren...

Toller Einkaufswagen
Meine Frau und ich sind einkaufen gegangen. Das erste Mal gemeinsam in unserer neuen Wohngegend. Langsam sammeln sich die Tüten, so daß ich einen Teil auf meine Knie packe. Als wir an einer Bäckerei vorbeikommen, sehe ich ein Schild ‘Rhabarberkuchen’. Dummerweise hat die Bäckerei ein paar Stufen vor dem Eingang. Ich bitte also meine Frau, für uns Rhabarberkuchen zu kaufen. Sie lagert ihre Einkäufe auf meinen Beinen zwischen und geht hinein. Von drinnen ist jetzt vor der Tür ein Tütenberg auf Rädern zu sehen, aus dem oben ein Kopf rausschaut. Auf die Frage der Verkäuferin, ob sie eine Tragetüte möchte, deutet meine Frau zu mir und meint, die brauche sie nicht, sie habe ja ihren Einkaufswagen dabei. Ich sehe an der Gestik ungefähr, worum es geht. Mein Kommentar, laut genug, daß man es auch drinnen hört: “Hat nicht jeder, ‘nen Einkaufswagen, der selber fährt”!
Das Gesicht der Verkäuferin - Vergnügungssteuerpflichtig!!!

Aber - Weißt Du, was ein Hammer ist?
Das ist so ein Klumpen verdichtetes Metall mit ‘nem Stiel dran, meistens aus Holz...

Abschlepper
Gemeinsam mit einer Mitpatientin bin ich in die Stadt gefahren. Sie im E-Rolli, ich habe meine Zugmaschine vorgespannt. Während sie in einem Geschäft stöbert, schaue ich mir in der Fußgängerzone die Leute an. Mir fallen zwei gut aussehende Rollifahrerinnen auf, die offensichtlich ihre Kräfte überschätzt haben und jetzt ziemlich hilflos in der Gegend rumstehen. Welcher Mann, auch wenn er nur noch 1,20 ist und Räder hat, mutiert da nicht zum Prinzen auf dem weißen Pferd? Ich will mich bei meiner stöbernden Begleiterin abmelden, aber sie ist so vertieft, daß sie mich gar nicht wahrnimmt. Auch gut, bin ja gleich wieder da. Eine Rollifahrerin hängt sich an mich dran, ihre Kollegin an sie und los geht’s. Quer durch die Fußgängerzone und auf der anderen Seite den Hügel hoch. Lok und Tender sind schnell in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Nach ein paar Minuten fällt uns auf, daß die dritte im Bunde so still ist. Klar, die steht ein paar hundert Meter hinter uns und schimpft wie ein Rohrspatz. Die Situation grenzt ans Skurrile.
Na ja, wir sammeln unsere verlorene Seele wieder ein und ich liefere die beiden in ihrer Klinik ab. Jetzt aber nichts wie zurück, meine Begleiterin wird bestimmt schon warten.
Als ich an dem Laden ankomme, steht sie schon davor und schaut mir mit fragendem Gesicht entgegen. Wo warst’n?
Hab mal schnell 2 Frauen abgeschleppt...

Das neue Zimmer
Ein Patient wohnt nach vorn heraus und bittet darum, ein Zimmer nach hinten zu bekommen, weil ihn die Straßenbahn stört. Daß da eine Bushaltestelle ist, hat er noch nicht bemerkt. Auf der anderen Seite ist ein Zimmer frei und so wird seiner Bitte entsprochen. Ein Pfleger reicht ihm den Schlüssel zu seinem neuen Zimmer.
“Ah, das ist jetzt wohl mein neues Zimmer.”
“Nein, das ist ein Schlüssel.”

 Die Rollstuhlrampe
Wenn man täglich mit Rollstuhlfahrern und Fußgängern zusammen ist, verschwimmen manchmal die Unterschiede, was zu so manchem geistigen Rösselsprung führt...
Ich habe in der Stadt einen tollen Buchladen entdeckt. Zurück in der Klinik schwärme ich dem Pfleger vor, was es da so alles gibt. Leider hat der Laden eine Stufe vor dem Eingang, aber der Ladenbesitzer hat da so eine kleine Rollstuhlrampe aus Riffelblech. Der Weg vor dem Laden ist etwas abschüssig, deshalb ist die Rampe asymmetrisch. Während ich dem Pfleger genau beschreibe, wie er mit dieser asymmetrischen Rampe in den Laden hinein kommt, wird sein Grinsen immer breiter, was mich denn doch leicht irritiert. Das hat zur Folge, daß meine Erklärung detaillierter ausfällt, als ich eigentlich vorhatte. Endlich glaube ich, daß jetzt klar ist, wie man mit dem Rollstuhl in den Laden kommt. Nur, warum grinst er denn immer noch?
“Das hast Du jetzt richtig schön erklärt, aber weißt Du - ich kann laufen”.

Noch ‘n Abschlepper (oder - Zuhören!)
Beim letzten ‘Frischfleisch’ war eine sehr gut aussehende Rollstuhlfahrerin dabei. Sie ist keine deutsche Muttersprachlerin, spricht dafür mit einem ganz lustigen Akzent. Sie fragt mich, ob es in der Nähe einen Laden gibt. Ich will sowieso einkaufen, also biete ich ihr an, sie zu begleiten. Jetzt geht es in die Stadt ziemlich bergab. Im Rollstuhl nicht weiter schlimm, aber zurück geht’s bergauf. Ich habe ja meine Zugmaschine, also kein Problem. Ich sage meiner Mitpatientin, sie könne sich an mir festhalten, dann ziehe ich sie den Berg hoch.
Gesagt, getan, als wir los wollen, meint sie noch, jetzt bräuchte sie einen E-Roll. Haben wir aber nicht, also komm jetzt. Auf dem Rückweg muß sie zweimal loslassen. Der Berg ist aber auch schon recht steil. Oben angekommen, sagt sie, das war ja jetzt ganz lustig, aber das nächste mal nimmt sie dann doch lieber ihren E-Rolli.

Die neuen Schuhe
Eine junge Rollstuhlfahrerin bekommt von ihrer Mutter ein paar modische neue Schuhe mitgebracht. Schick sehen sie aus, nur sitzen sie ziemlich stramm.
Sagt die Mutter:
"Das ist normal bei neuen Schuhen. Die mußt du natürlich noch einlaufen."

Der freundliche Polizist
Stadtfest in der Kurstadt, in der ich momentan residiere. So viele Menschen auf einmal hat das Tal schon lange nicht mehr gesehen. Jetzt habe ich schon eine Fahrradklingel an meinem Rollstuhl, weil auf ‘darf ich bitte vorbei’ oder etwas in der Richtung kaum jemand hört. Heute kann ich klingeln, soviel ich will, es interessiert keinen Menschen. In der Innenstadt ist ein Markt aufgebaut. Ein Stand hat Fußball-Fanartikel: Vereinswimpel, Deutschland-Fahnen, Trikots und solche Sachen halt. Unter anderem liegen auch Preßluft-Fanfaren aus. Als ich dem Verkäufer erkläre, wozu ich die Fanfare benötige, greift er unter den Tisch und holt ein besonderes Modell heraus. Auf der Kartusche ist eine Warnung aufgedruckt - 140 db! Im nächsten Menschenpulk drücke ich vorsichtig kurz den Auslöser. Beeindruckend, die springen aus dem Stand locker mal so einen halben Meter hoch. So ungefähr.
Auf dem Rückweg in die Klinik drücke ich auf halbem Weg mal etwas fester. Tolles Echo! Als ich mit meiner Familie wieder an der Klinik ankomme, hält hinter uns ein Streifenwagen. HA, sagt meine Frau, jetzt kriegst Du eine auf den Deckel wegen deiner Fanfare. Der Polizist steigt aus, kommt auf mich zu - und fällt mir um den Hals.
Wo er schon mal dabei ist, umarmt er noch meine Frau und meine Tochter, drückt meinem Sohn die Hand...
Es ist ein früherer Mitpatient mit dem ich schon zusammen Musik gemacht habe und der sich einfach freut, mich zu sehen. Er wurde für das Stadtfest von seiner Dienststelle hierher ‘ausgeliehen’. Ich habe ihn in der Uniform erst gar nicht erkannt.
Die Gesichter der Passanten - herrlich. Meins sehe ich ja nicht...

Was geht?
Da hätte ich zu gerne Mäuschen gespielt...
Große Pause. Meine Tochter und ihre Freundinnen sind auf dem Schulhof.
Kommt so ein Proll daher. “Ey Alde, was geht?”
“Alles, was Beine hat - Ausser Tisch, Stuhl, un’ mein’ Babba...”