1. Wochenendurlaub

Ich darf nach Hause!!!
Das erste Mal seit meinem Unfall vor ziemlich genau 10 Monaten darf ich nach Hause. Zehn Monate, das lasse ich mir langsam auf der Zunge zergehen. Zehn Monate war ich jetzt nicht mehr zu Hause.
Und es ist ein neues Zuhause. Das alte Zuhause war auf 4 Ebenen verteilt. Wunderschön - aber ein No Go für Rollstuhlfahrer.

Also zog meine Familie um. Mit viel Hilfe von vielen Freunden.

Da unsere Stadt schon ihren Alibi-Rollstuhlfahrer hat, ging es in ein neues Domizil, in einer neuen Stadt. Parterre, alles auf einer Ebene. Da gibt’s auch Schönes.

Ich bin aufgeregt, wie ein Pennäler vor der ersten Klassenfahrt. Bekomme prompt in der Nacht zuvor noch Dünnpfiff. Egal, da gibt’s Tabletten für. Zieh ich eben 'ne Hose an, die leicht zu waschen ist.

ICH DARF NACH HAUSE!!!

Gestern hat mir meine Ergotherapeutin noch schnell gezeigt, wie ich vom Rollstuhl ins Auto komme und wieder raus. Ging leichter als ich dachte.
Heute früh war noch der Techniker vom Sanitätshaus da und hat mir die Adapter für das Treppensteiggerät angebracht. Das Gerät will er auf dem Heimweg bei mir abliefern.
Und jetzt stehe ich da - Nee eigentlich steht der Rollstuhl, ich sitze - egal, jetzt stehe ich da, neben einem Riesenberg Gepäck.
Material zum Kathedern, kleine und große Betteinlagen, Dichtungsmittel für die Blase. Pflegematerial, Kompressen, Handschuhe, Verbandmaterial, und und und...
Ach ja, mein Rollstuhl und ich müssen ja auch noch mit.
Welche Nase ruft mich denn jetzt auf meinem Handy an? Meine allerliebste Chauffeuse will wissen, wo ich bin, sie steht auf dem Parkplatz.

Komm bitte hoch, ich hab noch ein bisschen was zum Mitnehmen...
Hmmm, da müssen wir wohl die Rückbank klappen.
Na gut, Rutschbrett untern Po, entlasten, und - Bin ich da jetzt drin? hätte Boris gesagt.
Ich bin im Auto und sitze - absolut Sch...
Also, Becken nach vorne, Beine irgendwie anders, alles tut weh. Egal, ich will jetzt heim! Meine liebste Rollstuhlzusammenfalterin kämpft inzwischen mit meinen Reservefüßen. Das Ding weigert sich standhaft, es will sich nicht zusammenfalten lassen.
Mensch, hol doch jemand von der Station.
Schnell ist auch ein Pfleger da, der ist genau so ratlos. Man einigt sich, erst einmal den Rucksack abzuschnallen. Ah, hier ist auch ein Riegel!
2 Minuten später ist der Rollstuhl verstaut. Merke, Bedienungsanleitung vor dem Abheften lesen.
Sach ma, wie sitzt Du denn da drin? Gib mal Deine Jacke. Meine liebste Modistin zieht Ihre Jacke aus, die wird zusammengerollt und mir ins Kreuz gesteckt.
Heh, so ‘n bequemen Sitz haben wir?

Wir kommen auf der Autobahn so langsam in heimatliche Gefilde. Ist schon ein merkwürdiges Gefühl. Eine Textzeile fällt mir ein: ”So vertraut und doch so fremd”. Dann die Abfahrt in Richtung der neuen Heimat. Komisch - sonst ist der Ausdruck ‘Neue Heimat’ eigentlich ‘ne Steilvorlage für einen Kalauer. Langsam wird’s emotional. Wir biegen in die Straße ein.

Da ist es.
Mein neues Zuhause.
Sieht von außen nicht schlecht aus. Aber jetzt muß ich erstmal aus dem Auto rauskommen.
Und ins Haus rein.
Vorne sind 3 Stufen, hinten 2.
Und ne Terrassentür.
Probieren wir es hinten.
Geht - mit einiger Mühe. Mhh, muß ich für einen Umbauantrag vormerken.
Aber ich bin drin im neuen Zuhause. Sieht gar nicht so schlecht aus. Gleich mal ins Bad. Upps - Der Chat steckt fest!
Aber richtig. Da haben wir wohl falsch gemessen. Nee, gemessen haben wir richtig, die Tür geht nicht ganz auf und die klemmt mich ein. In Gedanken formuliere ich schon den Antrag für die Umbaumaßnahme.
Dann wasche ich mich eben für’s Erste in der Küche, hat man früher auch so gemacht. Wäre mit einer unterfahrbaren Spüle auch ganz einfach. Egal.
ICH BIN ZUHAUSE!!!
Die Details klären wir später.
Plötzlich ist die Bude voll.
Ein Freund möchte noch den letzten Küchenschrank aufhängen. Beim Aufräumen sind aber die Haken verschwunden. Der nächste hängt schon mit dem Zollstock an der Badetür. Die Nachbarin möchte eigentlich nur Hallo sagen, genau wie der Nachbar gegenüber. Eine Freundin schnappt sich ein Spültuch und kümmert sich um ein paar vergessene Teller in der Spüle. Die Dame von der Sozialstation möchte den Schlüssel abholen. Zwei andere möchten noch einmal mit dem Nachbarn reden, weil sie beim Umzug sein Auto angekratzt haben. Fehlt eigentlich nur noch der Techniker mit dem Treppensteiggerät.
Und da ist er auch schon, möchte gern noch überprüfen, was wir von der letzten Einweisung im Kopf behalten haben. Zum Glück habe ich den Lieferschein heute früh schon unterschrieben.
Hilfe, ich möchte endlich meine Familie in den Arm nehmen! Aber ich kann doch den Leuten, die uns so geholfen haben und sich freuen, mich endlich zu sehen doch nicht sagen, daß mir jetzt eigentlich mehr danach ist, meine liebste Umzugsspezialistin mal so richtig in den Arm zu nehmen. Und der Nachwuchs will auch geknuddelt sein!.
Das Wunder geschieht, wie auf ein geheimes Kommando fällt dem einen ein, daß er dringend noch etwas besorgen muß, der nächste will schnell noch auf einen Sprung zu jemand anderen...
Die Wohnungstür klappt zu.
Ich bin daheim.