Dr. Stunt

Eigentlich wollte ich ja bewußt keinen meiner Weggefährten besonders herausheben. Einmal damit angefangen, kommt bestimmt ein anderer und fragt, warum ich denn über ihn nicht mehr geschrieben habe. Menschen sind nun einmal so, das kann ich keinem übelnehmen.
Aber, heh, das ist doch schließlich mein Bericht! Da kann ich doch bitteschön schreiben, was auch immer ich möchte.
In meinem früheren Leben hätte ich, harmoniesüchtig wie ich war, versucht es allen Recht zu machen.
Stellvertretend für so viele, picke ich jetzt einfach mal einen heraus.
Nennen wir ihn einmal Bernd, egal, wie er in Wirklichkeit heißt.

Bernd ist ein Tetra. Einer, bei dem die Handfunktion darin besteht, dass er sich seine Hände ansehen kann. Ist doch schon mal was. Der gute hat mehrere Doktortitel, sogar habilitiert, ist also das, was man hier als Käpsele bezeichnet, schon ein recht pfiffiges Kerlchen. Er ist von seiner Unfallhistorie her ca. ein halbes Jahr hinter mir. Was mich fasziniert, ist die Entwicklung, die er durchmacht. Es ist, als ob ich meine eigene Entwicklung noch einmal beobachten kann. So wie beim Fußball, wenn der Kopfball von Miro immer und immer wiederholt wird. Von der Torkamera, dann aus der Totalen, hinterher nochmal ne Animation, genau, wie Poldi die Ecke tritt...

Ey, Alter, Du faselst schon wieder. Außerdem hast Du doch keine Ahnung von Fußball.

Stimmt, also zurück zum Thema.
Als Bernd hier ankam, konnte er wunderbar mit den Augen rollen und kurze Sätze hauchen.
Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben, die Angst vor der Zukunft.
Das ist das Problem bei Kopfmenschen, die Gedanken sind einfach da und produzieren ständig ein Szenario nach dem anderen, nach dem Motto: “Schlimmer geht immer”.
Gelegentlich sitzen wir bei einem guten Roten zusammen und philosophieren. Ich weiß, in neuer Rechtschreibung schreibt sich das anders, aber wie sieht das denn aus, filosofieren, wie ne Karikatur, schlimm.
Tschuldigung, also nochmal - gelegentlich sitzen wir zusammen und lassen einfach unsere Gedanken so vor sich hin fliegen. Mit Menschen, die gelernt haben, ihren Kopf so zu verwenden, wie ein guter Schreiner seinen Hobel, hat das eine ganz andere Dimension.
Das geht dann vielleicht mit Heisenberg los. OK, jetzt ist Schrödingers Katze mit Sicherheit tot. Warum haben momentan amerikanische Autoren solchen Erfolg. Was ist denn mit den deutschen Schreibern, warum kommt da so wenig. Oder gehen die Verlage lieber auf Nummer sicher? Was hat es mit dem Kamel und dem Nadelöhr auf sich. Vor allem, wenn man das arabische Wort für Kamel etwas anders darstellt, dann erhält man das aramäische Wort für Tau. Eher geht ein Tau durch ein Nadelöhr, macht plötzlich Sinn. Dürfen Muslime ihre Frauen wirklich “schlagen, weil sie ungehorsam sind”, oder sollen sie dafür ein bestimmtes rituelles Stöckchen verwenden, was den Schlag als solches zu einer Geste macht, die Mißfallen ausdrückt. Ist eine Nahtoderfahrung nur eine chemische Reaktion des Gehirns oder ist sie real? Der Frosch in der Zauberflöte ist keine Metapher, hat auch keinen tieferen Sinn. Er ist bloß eine lustige Idee. Heute wäre das ein Gimmick...
Manchmal geht es auch weiter ins Metaphysische oder wohin auch immer, wir lassen einfach den Gedanken die Zügel schießen. Mal sehen, wohin sie diesmal laufen.
Ich genieße solche Gespräche, so wie ich einen Theaterbesuch genieße, oder einen guten Wein. Für den täglichen Gebrauch ist das nichts, das würde das Besondere darin sehr schnell abschleifen.
Einmal traf ich Bernd im Aufzug. Ganz plötzlich schoss ihm das Wasser in die Augen - von einem Moment zum anderen drückte sein Gesicht, ja die ganze Haltung tiefste Verzweiflung aus. In diesem Moment wurde ihm klar, was er durch seinen Unfall verloren hat, wie abhängig er ab jetzt von anderen sein wird. Von Dritten, Fremden. An diesen Moment kann ich mich gut erinnern. Da muß jeder von uns durch. Und für jeden von uns ist dieser Moment etwas sehr individuelles, ein Schlüsselaugenblick. Bei mir war es der Zeitpunkt, als ich mich sehr intensiv mit dem Not-Aus-Knopf beschäftigte. Da muß jeder von uns auf seine eigene Art mit fertig werden.
Für Bernd kam noch dazu, dass er als ehrenamtlicher Klinikseelsorger plötzlich selbst vor einem gewaltigen Problem stand.
Er hat auch diese Hürde geschafft. Inzwischen kann er selbst essen, gewinnt täglich neue Fähigkeiten dazu. Es ist eine Freude, ihm dabei zuzusehen, wie er immer stärker, immer sicherer wird.

Eines Abends, wir waren auf der Dachterrasse zu einem Cabernet verabredet, wurde ich aufgehalten.
Pünktlichkeit hat bei uns einen sehr hohen Stellenwert, es könnte ja sein, dass der andere irgendwo festhängt und Hilfe braucht. Also fuhr Bernd mir entgegen.
Wie es mit Geistesmenschen so ist, die Physik hat manchmal einfach einen zu niedrigen Stellenwert. Bei Bernd war es eine kleine Unebenheit im sowieso schon schrägen Fußboden. Zielsicher fuhr er die diese genau im richtigen einem Winkel an. Die Flasche Wein in seinem Rucksack und sein energetischer Anschub hoben durch den richtigen Winkel seinen Rollstuhl über den hinteren Kipppunkt. Das Ergebnis war eine elegante Rolle rückwärts mit einem eingesprungenen Kippschutzknicker, abgeschlossen mit einem gerutschten Rollstuhl-Fußboden-Transfer.
In einfachen Worten: Bauz.

Nun lag er da, in seiner ganzen Pracht. Neben ihm sein Rollstuhl, die Kippschutzbügel ornamentartig gen Himmel gestreckt. Sein Handy im Zimmer auf dem Nachttisch. Er wappnete sich in Geduld, irgendwann wird schon jemand kommen, so unbequem lag er nun nicht.

Ein anderer hätte in dieser mentalen Verfassung vermutlich das Thema Rollstuhl selbst bewegen erst einmal als Zukunftsprojekt abgeheftet.
Nicht so unser lieber Bernd.
Am nächsten Abend saß er mit provisorisch repariertem Rollstuhl auf der Dachterrasse. Bei uns waren einige nicht unattraktive Rollstuhlfahrerinnen, was unsere Gespräche einmal in andere Bahnen lenkte.
Seitdem hat er seinen dritten Doktortitel, verliehen von uns:

Dr. hum. c. Stunt