Im Wald

Eigentlich wollte ich bloß ein paar Sachen einkaufen und mein Leergut wegbringen...

... aber langsam sollte ich es doch gewohnt sein, dass es manchmal einfach anders läuft.
Wie ich so mit meiner leeren Saftflasche und meinem Einkaufszettel vor die Tür komme, treffe ich einen 'Kollegen' mit seinem Handbike.
Er erzählt mir von einem Aussichtspunkt, wo König Schießmichtot der wasweissichwievielte einen Mammutbaum für seine 17. Frau pflanzen lies.
Der Baum hat inzwischen einen Umfang von 5 Metern und man hat von da aus einen tollen Blick ins Tal.
Der Supermarkt hat auf bis um 20 Uhr, meine Akkus sind voll, was spricht gegen einen kleinen Umweg.
Im Wetterbericht haben sie was von einem Gewitter gesagt, aber der Himmel ist blau, bis auf ein paar Wolken, also los.

Und schon quält sich mein treues Roß eine steile Straße hinauf. Schneckentempo wäre geprahlt - Trotz vollgeladener Akkus.
Jetzt weiß ich, warum hier so viele einen Allrad fahren. Mein Kollege hat's gut, sein Handbike hat einen Hilfsmotor, der ihn unterstützt,
wenn’s zu schwer wird. Die Logik von der Kiste ist ziemlich ausgefuchst. Allerdings muß er 'treten', also die Kurbel bewegen, damit die Kiste erkennt, dass er fahren will.
Der Motor mißt ständig die Kraft, mit der er die Pedale bewegt. Wird ein bestimmter Wert überschritten, dann schaltet er sich zu.
Grinsend saust er mit Radfahrergeschwindigkeit den Berg hoch. "Ich warte dann oben auf Dich", höre ich noch, dann entschwindet er um eine Kurve.
Meine kleine Zugmaschine krallt sich mit allen vier Rädern in den Asphalt und zieht mich langsam, aber stetig die Straße hoch.

Zwei Kurven weiter steht mein Kollege am Straßenrand. Er hat ein paar seltene Pflanzen entdeckt, die er mir zeigen will.
Nun muß ich zu meiner Schande gestehen, mit Pflanzen habe ich es jetzt nicht so. Wenn meine Nachbarn sich mal wieder über das Unkraut in meinem Garten mokierten,
dann konnte ich ihnen zwar erklären, dass es in meinem Garten kein Unkraut gäbe, jede Pflanze wäre zu etwas gut. Mir fiel auch meistens etwas passendes ein.
Aber gegen einen echten "Kräuterhexerich" sehe ich natürlich furchtbar alt aus. Aber man ist ja lernfähig.
Ich habe es mir sogar bis zur übernächsten Kurve behalten...

Der Blick, als wir oben ankommen, ist jedes einzelne Watt aus unseren Akkus wert. Auch der Mammutbaum ist beeindruckend.
Ist jetzt aber nicht wirklich abendfüllend, wenn man nicht gerade ein verliebtes Pärchen ist.

"Hmmm", mein Kollege zieht eine Karte heraus, "Was meinst Du, der Weg hier, der geht durch den Wald zu einem Grillplatz.
Vielleicht können wir ja ne Bratwurst abstauben".
Und schon sind wir unterwegs, diesmal auf einem Waldweg, der sich allmählich von einer Schotterpiste zu einer Art Trampelpfad wandelt.
Meine kleine Zugmaschine zieht mich tapfer durch Schlammpfützen, Gras, und Kies in allen Größen.
Ich bin in der Großstadt aufgewachsen, da ist jeder Grashalm, jeder Kiesel genau geplant.
Und hier, da wachsen die Bäume, die Sträucher so, wie sie wollen. Der Wald wirkt immer düsterer, bekommt langsam etwas verwunschenes.
Das wiederentdeckte Kind in mir kann ein kleines Schaudern nicht unterdrücken.
Ein Gefühl, das ich früher hatte, wenn meine Mutter oder mein Vater von Hänsel und Gretel erzählten. Sie konnten So packend erzählen, dass ich jedesmal ihre Geschichten miterlebte. Ich lasse das Gefühl zu, genieße es. Der Erwachsene in mir bewundert derweil die Qualität, de die Rollstuhlbauer abgeliefert haben.
So ein Waldweg ist jetzt nicht gerade das, was ein Rollstuhlfahrer als ideales Terrain bezeichnen würde. Unter mir ächzen die Schweißnähte, aber sie halten.
Als wir an eine Lichtung kommen, sehen wir unter uns die Klinik liegen. Wir sind inzwischen ziemlich hoch.
Die Wolken werden dunkler, aber noch ist die Sonne zu sehen.

"Schau mal, das ist eine Goldmelisse" und schon hat mein Kollege angehalten, zupft etwas ab, verstaut es in der Tasche.
Endlich sehe ich auch etwas Bekanntes. "Hmm - Walderdbeeren - lecker." Klar, ich hab mal wieder was zu essen gefunden.
Ein Stück weiter wachsen Himbeeren. Vom Rollstuhl aus ist es nicht ganz einfach, da dranzukommen.
Oh, was ist das? Eine Zecke läuft gemütlich über den Handrücken meines Kollegen, sucht sich eine Stelle zum Reinbeißen.
Patsch, die beißt keinen mehr. Die war aber auch zu vorwitzig. So was...
Die ganze Zeit über habe ich den Geruch von Steinpilzen und Pfifferlingen in der Nase. Von denen müßte es hier geradezu wimmeln.
Tja, das Thema Pilze kann ich momentan erstmal abhaken. Aber da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, da fällt mir bestimmt noch was ein.

Ziemlich steil geht es wieder abwärts in Richtung Grillplatz. Hat es gerade gedonnert, das war bestimmt ein Zug.
Am Grillplatz angekommen, packt uns die Wut. Ursprünglich war da wohl mal eine Schutzhütte. Vor der Hütte waren Feuerstellen mit Bänken herum.
Die Bänke waren ursprünglich aus halbierten Baumstämmen.
Jetzt stehen sie mit einer Seite schwarz und spitz in der Feuerstelle. Wenn das nur eine Bank gewesen wäre, dann würde es ja noch gehen.
Aber nein, alle Bänke stehen wie die Speichen zweier Räder um die Feuerstellen, eine Seite im Gras, die andere Seite spitz und schwarz
in der Feuerstelle.
Die Schutzhütte besteht nur noch aus dem Dach. Die Wände sind verheizt worden.
Und überall liegen Scherben. Für einen Rollstuhlfahrer suboptimal, für den Wald brandgefährlich - das meine ich wörtlich.
Ein paar trockene Tage, eine Scherbe im richtigen Winkel, etwas trockenes Reisig und ein bisschen Sonne - mehr braucht es nicht, um den schönsten Waldbrand zu entfachen.
Ich kann mit meinem Rollstuhl um die Scherben herumfahren, der Wald kann das nicht.
Solche gehirnamputierten Idioten regen mich richtig auf. Mein Kollege, der alte Waldläufer hat so etwas wohl schon öfter gesehen.
Seine grimmige Miene spricht Bände, aber er hat sich besser im Griff.
Mein Toben wird von einem Donnern übertont, das gar nicht mehr harmlos klingt.
Ein Gewitter mit uns im Wald, unsere Rollstühle aus feinstem Metall.
Rennen wäre jetzt eine gute Idee, würde Jean Reno sagen - würd ich ja gerne...
Gute Akkus sind schon eine feine Sache. Das Gefälle, das wir eben noch herunterfuhren, entpuppt sich jetzt als gemeine Steigung.
Aber da müssen wir hoch, oben ist eine Abzweigung, die aus dem Wald herausführt.
Jetzt bin ich mit meiner alten, schweren Zugmaschine im Vorteil. Die dicken Akkus liegen direkt über den Achsen, alle vier Räder krallen
sich in den lockeren Untergrund. Ich packe zwar nur knapp Schritttempo, aber das beruhigend gleichmäßig.
Mein Kollege hat mit seiner eleganten Rennmaschine leichte Probleme. Jetzt beneide ich ihn überhaupt nicht mehr.
Sein Vorderrad hat durch das leichte Gewicht kaum Traktion und dreht ständig durch. Aber er weiß sich zu helfen.
Der Rucksack, der hinten an seinem Rollstuhl hängt, wird vorne auf den Gepäckträger gespannt. Dann lehnt er sich mit dem ganzen Gewicht auf den Lenker, sprich die Pedale. Die Adern an seinen Armen treten hervor, die Anstrengung verzerrt sein Gesicht, dann greift auch sein Vorderrad.
Oben angekommen geht es gleich wieder bergab, diesmal ist es ein grasbewachsener Pfad, den wohl alle paar Wochen der Förster benutzt.
Aber Hallo, der Weg hat's in sich. Da ist nichts trassiert oder geschottert, da sind die Fahrrinnen, dazwischen Gras und das Ganze so uneben, wie die Natur eben ist.

Das Donnern klingt langsam gar nicht mehr nett.

Unten kommen wir wirklich an einer geteerten Straße heraus, unweit der Klinik.
Schon reißt die Wolkendecke auf, die Sonne grinst unschuldig vom blauen Himmel, als wäre nie etwas gewesen. Na toll!
Und das ganze gute Adrenalin haben wir vollkommen umsonst ausgeschüttet? Wenn meine Nebennieren könnten, dann wären sie jetzt bestimmt stinksauer!

Aber wo wir schon mal da sind, in 10 Minuten gibt es Abendessen, das schaffen wir noch.

Das Gewitter kam übrigens später am Abend. In dem engen Tal, da hat das einen ganz ordentlichen Sound.

Ganz schön hoch ...