Frischlinge und alte Hasen

Letztens kam ein neuer ‘Frischling’, der mir besonders auffiel. Er hat fast die gleiche Vorgeschichte wie ich, nur bei ihm war es ein Autounfall. So ne richtig spektakuläre Kiste.
Er ist ungefähr ein halbes Jahr hinter mir und guckt genauso verschreckt aus der Wäsche, wie ich damals geguckt haben muß.
Damals - wie das klingt, jaja, damals vorm Krieg...
Das ist erst ein paar Monate her und kommt mir vor, als wäre es ewig - egal, ich fang schon wieder an zu schwafeln.
Ich sag also zu meinen Mitrollis, auf den müssen wir ein bißchen aufpassen, der wackelt noch ganz schön.
Paßt schon, ist nicht der Erste.
Das kam ganz selbstverständlich, so nach dem Motto, wir haben auch Augen im Kopf.

Kennt ihr den Effekt, wenn einem ganz plötzlich so ne ganz komplizierte Sache total klar wird?
So, als ob man sich schon lange im Dunkeln durchtastet und dann macht einer das Licht an?
Als ich damals hier ankam, da waren alle ganz nett, gut drauf, lachten viel über alles und jeden, sogar über meine dummen Witze. Schnell fühlte ich mich integriert, gehörte dazu.
Auf einmal hatte ich das Gefühl, die schneiden mich. So als hätte ich irgendwas furchtbar Dummes angestellt und man spricht nur noch das Nötigste mit mir.
Das waren alte Hasen, die auf mich aufgepaßt haben.
Da hab ich noch gewackelt, war psychisch instabil.
Die haben mir das Gefühl gegeben, daß jemand da ist, daß ich nicht alleine bin. Die haben mich praktisch an die Hand genommen, wie ein kleines Kind, das seine ersten Schritte macht. Und auch ruhig mal ein paar Tapse selbst machen kann.
Ist ja immer ne Hand da.
Als sie merkten, jetzt kann ich alleine weiter machen, haben sie wieder losgelassen. Das war, als ich die Musik als etwas zum Festhalten wiedergefunden habe. Das Loslassen kam allerdings ein bißchen plötzlich. Ich hab dann geglaubt, die mögen mich nicht mehr. Aber das waren eben keine Dachdecker, keine gelernten Psychos, sondern Rollstuhlfahrer, die alle das Selbe durchgemacht haben und mich eben ein wenig an die Hand nahmen, damit ich keine Dummheiten mache und nicht auf die Nase falle - bildlich gesehen.
So wie die Tanten und Onkels eben auf die Kleinen aufpassen.

Und jetzt bin ich mal dran - na ja, eher wie ein großer Bruder, der ein bißchen weiter ist, aber selbst noch jede Menge Erfahrung sammeln muß.

Nee, das hat mich so ziemlich geplättet, daß die alten Rollstuhlhasen so selbstverständlich auf die Frischen aufpassen, sie quasi an der Hand nehmen, bis sie einigermaßen alleine ‘laufen’ können - ohne großes Getue, einfach so. Macht man eben, wozu die Worte? Schließlich war man ja selbst mal ein Frischling.

Wobei - alter Hase und Frischling, das bezieht sich auf die Zeit, die jemand schon im Rollstuhl sitzt. Da ist es ganz normal, daß ich alter Knochen, der gut schon die Hälfte Leben durch hat, sich als Frischling bezeichnet und von der Erfahrung eines alten Hasen von Anfang zwanzig gerne lernt.

Es ist übrigens ein gutes Gefühl, daß ich ein klein wenig von der Hilfe, die ich damals bekam und immer noch bekomme, jetzt schon weitergeben kann.

Und ich verstehe langsam die Bedeutung des Ausdrucks: “Seine Belohnung in sich finden”.