Frischluft

Endlich richtige Luft, ungefiltert, nicht klimatisiert. Fenster auf und Frischluft – herrlich! So gefroren, wie auf dieser vertrackten Intensivstation in Karlsruhe habe ich keinen Juni und auch keinen Juli vorher. Keimfreiheit hin oder her, muß das denn so kalt sein? Der erste Eindruck von der Querschnittsklinik war Frischluft. Der nächste Eindruck war Lachen, fröhliches Lachen. Ich komme doch jetzt dahin, wo die ganz kaputten hinkommen. Die, die im Rollstuhl enden. Wieso lärmen die denn alle so herum?


Nach den Wochen auf der klimatisierten, abgeschotteten Intensivstation war die Dosis Normalität, die ich erst einmal verpasst bekam, ein echter Schock. Vorher endete mein optischer Horizont an einer gegenüberliegenden Betonmauer. Jetzt war ich im obersten Stock eines Gebäudes, das zudem noch auf einem Berg gebaut war. Diese Aussicht – sensationell. Und die Luft, die frische Luft. Meine Zimmernachbarn lernte ich dann auch kennen, zwei junge Kerle, die Energie und Tatendrang ausstrahlten. Mein Bettnachbar, Alex, erklärte mir erst einmal was ein Tetraplegiker ist, Halswirbelverletzung. Oder ein Paraplegiker – Brust- oder Lendenwirbel. Was einen kompletten von einem inkompletten Querschnitt unterscheidet. Mir schwirrten die Fachausdrücke um die Ohren. „Sach ma, bist Du Medizinstudent oder so was?“ „Nö, ich war Landschaftsgärtner. Aber nach ein paar Wochen hier hast Du das auch alles drauf.“ Na klar! Und nächste Woche mach ich meine erste Herzoperation! Aber Alex hatte nicht Unrecht, nach einigen Wochen warf ich genauso mit Fachausdrücken um mich, wie alle anderen auch. Und mit noch etwas hat mich Alex beeindruckt. Er war ein sehr hoher Tetra, also hatte seine Verletzung sehr hoch im Bereich der Halswirbelsäule. So hoch, dass er noch nicht einmal mehr schwitzen konnte. Während wir uns unterhielten, fiel mir eine Rolle Hustenbonbons herunter. Schwupps, war Alex aus dem Bett heraus, saß in seinem Rollstuhl, rollte zu mir herüber, bückte sich und hielt mir grinsend meine Bonbons entgegen. Moment mal, der ist doch ein Tetra, der kann das doch gar nicht…

„In ein paar Wochen kannst Du das auch“ Junge, das war eine Initialzündung! Die Erkenntnis dämmerte nicht, die rumpelte heran, wie ein Güterzug. Wenn ein Tetra so etwas kann, was kann ich denn als Para alles anstellen? Da wusste ich noch nicht, wie viel Kraft und Ausdauer jedes Stück Normalität kostet. Aber es lohnt sich!

Und dann kam die Nacht!

Das Feuerwerk an unmöglichen Empfindungen war diesmal besonders intensiv. In einem lichten Moment merkte ich, dass ich dabei war, meinen gebrochenen Arm auszupacken. Ich wusste irgendwo in einem Winkel meines dahinschwindenden Verstandes, wenn ich das schaffe, dann kann ich das Handgelenk vergessen. Nie wieder Klavier spielen, nie wieder eine Gitarre in die Hand nehmen! Ich drückte den Rufknopf für die Pflege. Die Kontrolllampe ging an und wieder aus. Oh nein, jetzt versucht man, mich von der Pflege abzuschotten. Also wieder Knopf gedrückt. Lampe an – aus. Ich weiß nicht, wie oft ich den Knopf gedrückt habe, bis ich auf die Idee kam, ihn einfach gedrückt zu halten. Irgendwann ging die Tür auf und der Pfleger vom Nachtdienst kam, mit mühsam unterdrückter Ungeduld, herein. „Hallo, ich hab’s schon beim ersten Mal gesehen.“ Er hatte, um den nachts doch recht lauten Alarmton abzuschalten, die Meldung quittiert, woraufhin bei mir das Kontrolllämpchen wieder ausging. Für den erfahrenen Patienten als Zeichen, dass die Pflege den Ruf zur Kenntnis genommen hatte. „Ich drehe durch, ich glaube, ich werde verrückt!“ Hatte ich das jetzt laut gesagt, oder nur gedacht. „Quatsch, Du verarbeitest“. Eine Stimme, die für den langhaarigen ‚Bombenleger’, der da vor mir stand, überraschend sanft und mitfühlend war. „Sprich mal mit unseren Psychologen“. Ich – zum Dachdecker? Ich brauch doch keinen, der mir mein Oberstübchen entrümpelt!

Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie gerädert. Ach komm, was kann es schon schaden - ich bat um ein Gespräch mit einem Psychologen. Am selben Morgen kam ein netter älterer Herr herein, der sich als Psychologe vorstellte. Ziemlich schnell waren wir in eine kleine Plauderei vertieft. Prima, so lange wir so vor uns hin plaudern, bleibt mir der Seelenstriptease erspart. Von wegen, ich war schon mitten drin im Strippen. Bei ihm hörte sich die Geschichte mit dem grün schmeckenden Knie plötzlich total plausibel an. Er erklärte mir, dass dieses Informationschaos unter dem Begriff Mißempfindungen bekannt sei. Es kommt bei Querschnitten sehr häufig vor, ließe sich aber mit Medikamenten gut in den Griff kriegen.
Und ich hatte mich schon in der weißen Jacke gesehen, die hinten zugeknöpft wird.
Danke Andy, der Tipp war goldrichtig!