Freitag

Guten Morgen, es ist 5 Uhr, hier ist ihr Frühstück.
Warum laßt ihr denn nicht gleich ne Militärkapelle durchs Zimmer marschieren? Momentema, wieso Frühstück? Da hab ich mühsam die halbe Nacht abgeführt, diesen fürchterlichen Saft getrunken - heute ist doch Untersuchung?
Vorsichtig hebe ich erstmal ein Augenlid hoch. Siehe da, auf meinem Nachttisch steht die große, blaue Plastikkanne, in der gestern dieser wunderbare Saft war.
Randvoll.
“So, jetzt gibt es die zweite Portion”, flötet es mir ins Ohr.
Wie kann man um die Uhrzeit so eine gutgelaunte Betriebsamkeit verbreiten? Die nackte Folter!
Ich öffne auch das zweite Auge, reibe beide Augen ein bisschen, aber die Kanne bleibt real.

Bei der Kanne stehen 3 Schnabelbecher, zwei leere, einer mit Wasser und einem Teebeutel drin. Ach ja, richtig. Ich hatte abends noch einen Tee bekommen. Nachts hat mir die Nachtschschwester etwas Wasser gegeben. Ich hatte sie gebeten, nicht die Becher zu nehmen, in denen der Abführsaft war, sondern den Teebecher. Leider hatte ich versäumt, sie zu bitten, dass sie den Teebeutel aus dem Becher rausnimmt.
Meine Schuld.
Na denn! Ich fülle also meine Schnabelbecher und mache mich daran, die Kanne zu leeren. Die schmeckt auch nicht besser, als die von gestern. Und da kommt auch schon die Bettpfanne.
Prima, wenn wir so früh anfangen, dann komme ich auch früh in den OP und kann heute Mittag noch mal bei meinem Hausarzt vorbeischauen. Einfach mal so, zu Besuch. Das ist so eine liebe Truppe, da kann ich die paar hundert Meter ruhig mal rüber rollen.
Ich schnappe mir also mein Buch, schalte das Radio ein und kümmere mich um die blaue Kanne.
Jede halbe Stunde höre ich Nachrichten.
In der Zwischenzeit hat man mich wieder auf die Bettpfanne gesetzt, diesmal gleich gepolstert. Aha, die sind lernfähig.

So vergeht die Zeit.

Ich warte.

Mit steigender Ungeduld.

Mein Zimmernachbar ist der einzige, der ab und zu mal zwischen zwei Zigaretten hereinkommt.

So langsam steigt mir die Galle hoch.
Ich liege da, weiß nicht, wann ich drankomme, außer meinem Zimmernachbarn sehe ich keinen Menschen.
Ab und zu geht die Tür auf und wieder zu, aber niemand kommt herein. Ich habe keine Ahnung, was vorgeht. Liege ich im Zeitplan, gab es eine Panne, hat man mich vielleicht sogar vergessen?
Gegen Mittag meldet sich mein Handy. Meine Frau möchte wissen, ob sie mich schon holen kann.
Der letzte, der die Tür aufgemacht hat, ohne hereinzukommen, hat sie offen stehen lassen, so dass ich im Durchzug liege.
Eigentlich müßte man mich jetzt draußen hören. “OB DU MICH HOLEN KANNST?”, ballere ich los, “Ich weiß überhaupt nicht, ob man realisiert hat, dass hier jemand wartet!” Meine Frau merkt sofort, wie der Hase läuft, dass ich nicht sie meine. Ist eben ein pfiffiges Mädchen, meine liebste Zuhörerin. Sie meint nur, es klingt noch nicht sauer genug. Kein Problem.
“SEIT FÜNF UHR LIEGE ICH MIR HIER NEN WOLF - KEINE SAU INTERESSIERT SICH FÜR MICH - ABER DAS IST MIR SCHEISSEGAL; ICH HAUE HEUTE WIEDER AB - MIT ODER OHNE UNTERSUCHUNG!”

Zwei Minuten später steht eine Schwester an meinem Bett, was denn los wäre. In ausgesucht höflichen Worten bemängele ich den nicht existenten Informationsfluß. Es habe ja wohl eine Panne gegeben. Ich sei es aber gewohnt, dass in diesem Fall der Rollstuhlfahrer als erstes zurückgestellt wird.
Sie meint, sie müsse mal telefonieren und wäre gleich wieder da.
Eigentlich hätte ich schon längst meine Schmerzmedikamente nehmen müssen, aber das wurde mir explizit verboten. Langsam habe ich das Gefühl, auf Messern zu liegen.

Schon geht die Tür wieder auf, eine andere Schwester möchte wissen, seit wann ich denn schon wieder auf Station sei.
“Ich war noch gar nicht weg” Mein Ton läßt die Zimmertemperatur auf den Nullpunkt sinken. Die Schwester verschwindet blitzartig wieder. Prima, dass zu meiner Gesangsausbildung auch ein guter Sprachunterricht gehörte. Kann man immer wieder brauchen.
Schon ist die erste Schwester wieder da. Man habe heute ein neues Gerät bekommen und da wurde alle eingewiesen. Spitzenplanung! So ein teures Diagnosegerät wird auch ganz überraschend vom Lieferanten hingestellt.
Ich erkläre ihr, dass ich seit über einem Jahr unterwegs bin, nur zwei Mal im Monat übers Wochenende nach Hause darf und mir deshalb jede Sekunde, die ich mit meiner Familie verbringen darf, kostbar ist.
Sie schaut etwas betroffen. OK, ich hab noch Munition.
Ich bin im vergangenen Jahr zwei Mal dem Kollegen mit der Sense von der Schippe gehüpft. Deshalb ist jeder Augenblick, den ich sinnlos herumliege, für mich Lebenszeitvernichtung. Die Zeit ist weg, die kriege ich nie mehr wieder.
Ich kämpfe mit den Tränen.
Langt immer noch nicht. Aga, aga, ein’ hab ich noch.
“Wissen sie, wenn mich so ein Großkonzern mal wieder wie eine Nummer behandelt, ich hab ne Super Rechtsschutzversicherung. Denen macht es einen Heidenspaß, so nen Laden zu ärgern. Bringt zwar nicht viel, aber die richtigen Leute, die kann man so richtig ärgern, bis sie es merken.”
20 Minuten später bin ich im OP.
Na also, geht doch.
Dabei hab ich noch nicht mal gelogen, nur den Ton ein bisschen intensiviert.

Eine Dame in Grün erklärt mir, dass man mir zuerst die Magen und dann die Darmspiegelung machen wird, direkt hintereinander. Dazu würde ich eine leichte Beruhigungsspritze bekommen. Ich versuche zu witzeln, ein Schlauch vorne oben, einer hinten unten, das ginge doch auch gleichzeitig. Scheint wohl nicht ihre Art von Humor zu sein. Sie schnallt mir ein Plastikteil zwischen die Zähne, da kommt bestimmt gleich der Schlauch durch. Ich will ihr noch etwas sagen, während sie eine Spritze ansetzt.
Licht aus.

Ich liege wieder im Krankenzimmer. Mein Bett dreht sich fröhlich im Kreis. Wie habe ich das Karussell fahren doch (eigentlich gar nicht) vermißt. Diesmal will keiner wissen, wie ich heiße und was für ein Tag ist.
Ich schnappe mir mein Handy und lasse eine SMS los, damit meine Frau Bescheid weiß. SMS direkt nach einer Narkose schicken, da muß der Empfänger schon gut interpretieren können. Sie zeigt mir später den Buchstabensalat. Ich weiß schon, was ich an ihr habe!
Bis die Pflege mitbekommt, was los ist, sitze ich im Rollstuhl vor dem Stationszimmer. Könnte ich bitte noch den Brief an meinen behandelnden Arzt haben? Den Zugang wäre ich auch gerne los.
Das Pflaster, mit dem der Zugang fixiert war hat mir, wie ich es gedacht habe, die Haut abgescheuert, so groß, wie ein 10-Cent-Stück. Eine offene Stelle, der Traum jedes Querschnittspatienten.
“Ach, das mache ich tausend Mal am Tag!” Depp!
“Querschnitt, kein Problem, haben wir Erfahrung mit! “ Ich lach mich tot!

Sch.. egal, nix wie weg hier!