Die erste Landpartie

Die Leute hier im Kurort sind ja an Rollstuhlfahrer gewöhnt, aber wie sieht das denn ‘normal’ aus?
Neugierig war ich ja schon länger darauf, habe mich aber noch nicht so richtig getraut. Dann hörte ich, das Eiscafé im Nachbarort wäre gar nicht schlecht. Eisfan bin ich, die Läden hier im Ort habe ich schon alle probiert, das wär doch mal ‘n Versuch wert.

Gesagt, getan, nach meiner obligatorischen Mittagsruhe spanne ich an und mache mich mit frisch geladenen Akkus auf den Weg.
Hinzus nehme ich den Radweg neben der Bundesstraße. Die Sonne brät so richtig vom Himmel herunter, ich habe meine coole Moppedsonnenbrille auf, die offenen Haare wehen im Gegenwind und ich fühle mich wie der Präsi von der Motorradgang, wie ich so mit meinen vollen 6 km/h über den Radweg brause.
Der erste Radfahrer, der mich überholt, ruft von hinten: “Achtung, Radfahrer überholt links”. Aha, der hat nicht seinen ersten Rolli vor sich. Der nächste klingelt bloß. Wär nicht nötig gewesen, ich höre seine Versandhaus-Gangschaltung schon von weitem. Was er aber nicht weiß, ich hab auch ne Klingel.
Die ihm fröhlich antwortet. Hallo, kein Grund, gleich vom Rad zu springen. Ja, man kann an einem Rollstuhl auch eine Klingel anbringen. Meine ist am vorderen Holm, gleich unterm rechten Knie. Also, der Radler war mal komplett ausgestattet, Klamotten, Bike, Mütze, Sonnenbrille, alles Ton in Ton. Damit bist Du obercool. Und schon im Stand 5 km/h schneller. Gibt’s alles auf Raten. Bis auf die schwachen Nerven. Die sind umsonst.
Der nächste Radfahrer weicht auf die Bundesstraße aus, obwohl der Radweg nun wirklich breit genug ist.
Im Vorbeifahren höre ich irgendwas von Pack, das sich breitmacht. Kann er mich nicht meinen, ich bin schon breit.
Nach einer guten halben Stunde komme ich im Nachbarort an. Ich merke gleich, daß man hier nicht an Rollstuhlfahrer gewöhnt ist. Ich muß entweder auf die Straße ausweichen oder mich auf dem Gehweg an großzügig über die Parkmarkierung hinaus geparkten Autos vorbei quetschen.
Die paar Wohnmobile, Quads, Trikes, Bikes und Autos, die den schönen Feiertagsnachmittag zu einem kleinen Ausflug nutzen haben ihre helle Freude daran, wie ich mit Höchstgeschwindigkeit vor ihnen her sause. Eine Gruppe Biker, alle gleich gekleidet, die von der Sorte mit den fröhlichen Totenköpfen auf den abgeschnittenen Jeansjacken, kommt unserer kleinen Kolonne entgegen. So zwischen den Häusern hört sich das wie Donner an. Ich mache das Harley-Zeichen, den hochgereckten Daumen. Sie lachen sich halbtot und winken zurück. Ich bin trotzdem froh, daß sie weiter fahren. An einer geschlossenen Tankstelle fahre ich wieder auf den Gehweg, bevor mich die Meute hinter mir am nächsten Baum aufknüpft. Das muß die Hitze sein, die schauen alle so grimmig.
Ich wäre besser auf der Straße geblieben, denn das Eiscafé ist nicht weit - auf der anderen Straßenseite. Na gut, dann üben wir jetzt, wie man an einem Feiertagsnachmittag eine Bundesstraße überquert.
Es ist 15:30 Uhr, als ich am Eiscafe abkopple. Ein schöner, schattiger Biergarten lädt zum Verweilen ein, es gib sogar noch ein paar freie Tische - wenn die 3 Stufen nicht wären...
Aber direkt an der Straße hat man noch 3 Bistro-Tische hingestellt, da steht sich’s bestimmt auch gemütlich. Einer davon ist sogar frei. Ich muß mich zwar so hinstellen, daß die Bedienung jedesmal ausweichen muß, wenn sie an mir vorbei will, aber so sieht sie mich wenigstens.
Und so warte ich, bis die Bedienung für mich Zeit hat.
Sie ist schon 3 Mal halb über mich drüber geklettert, sollte also inzwischen bemerkt haben, daß da ein potenzieller Kunde in seinem Rollstuhl sitzt.
Als sie das nächste Mal einen großen Bogen um mich schlägt, nehme ich meine Trinkflasche heraus, mit großer Geste, das muß sie sehen, trinke.
“Aah, war das gut, ich habe aber auch einen Durst bei der Hitze!”
Am Nebentisch sitzt eine Familie, der Vater mit dem Gesicht zu mir. Beim Einparken haben wir uns gegrüßt, ich habe mit dem kleinen Sohn der Familie übers Rollstuhlfahren geflachst.
Ja die Kinder, die gehen da irgendwie anders mit um.
Jedenfalls, der Familie wird die Situation sichtlich unangenehm. Als die Mutter ihren Sohn nach der Bedienung schicken will, hält sie der Vater mit einem Blick auf mein Gesicht zurück. Er hat verstanden.
Als kleine Entschädigung fahren ein paar Prozent der in Deutschland zugelassenen X8er an mir vorbei, schön poliert, in der Sonne glänzend. Könnte aber auch immer wieder der selbe gewesen sein. Kollege, das ist aber kein Originalauspuff...
Um 15:55 kommt eine Bekannte, die in der Eisdiele jobbt. Ich wußte vorher, daß sie um 16:00 Dienstbeginn hat. Mein Plan B, mein Joker, leider ein paar Minuten zu früh, weil jetzt natürlich die Meßwerte verfremdet werden. Sie begrüßt mich, fragt, ob ich schon bestellt hätte. Ich sage mit dem unverfänglichsten Ton, den ich noch zusammen bringe, dazu müsse man mich erst einmal zur Kenntnis nehmen, aber ich säße ja erst eine halbe Stunde hier. Aber das sei nicht so schlimm, da hätte ich wenigstens etwas zu schreiben.
Um 15:57 habe ich die Karte vor mir liegen, um 15:59 gebe ich meine Bestellung auf, die Spezialität des Hauses, einen Überraschungsbecher. Mal sehen, was ich für immerhin 5,50 Euronen bekomme. Um 16:02 steht ein mittelgroßer Eisbecher vor mir, schön mit Früchten garniert, mit Sahne, einem Keksröllchen. Das dürfte so ziemlich der Hausrekord sein. Irgendwo in der Masse ist ein kleines Praniné vergraben. OK, daß ich kein Kokoseis mag, können die nicht wissen, das zählt nicht.
Nachdem ich mich an meinen Eisbecher gütlich getan habe, zahle ich. 5 Euros und eine Handvoll Rote.
Zurück geht es durchs Enztaler Schlaglochmuseum, eine bemerkenswerte, liebevoll aktuell gehaltene Freilichtausstellung schiefgegangener Straßenreparaturversuche..
Von der die Stadtverwaltung irrtümlicherweise glaubt, es sei die alte Verbindungsstraße zwischen den Ortsteilen.

Der Eisbecher war übrigens ziemlich lecker.