Ich muss doch üben

Für den Rückweg soll ich den Radweg an der Umgehungsstraße ausprobieren, meinten meine Freunde zum Abschluß.
Auch nicht schlecht, weil der führt auf der Strecke, die ich nehmen muß, durch den Wald und ich spare die Unterführung an der Schule.
Da könnte ich sogar mal versuchen, die Strecke zu Fuß, sprich: von Hand, zu nehmen.
Pfeifendeckel!
Ohne meine kleine Zugmaschine würde ich jetzt ziemlich alt aussehen.
Die Strecke selbst ist schön zu fahren, aber die Unterführung an unserem Ortseingang ist für einen Rollstuhlfahrer kaum zu nehmen. Ist die Steil!!!
Selbst meine Zugmaschine zieht, was die Akkus hergeben und kommt dabei kaum vom Fleck. Noch langsamer und ich würde rückwärts fahren.
Hier muß ich aufpassen, dass meine Akkus noch genügend Ladung haben. Wenn ich hier mal nicht hochkomme, dann hab ich verloren, unten in der Unterführung gibt's nämlich auch keinen Handy-Empfang.
Da haben die Vekehrsplaner und die Umweltschützer mal wieder um jeden Zentimeter Weg gefeilscht.
Ich kann mir die Verhandlung richtig vorstellen: 'Ja, da müssen die Radfahrer eben absteigen, aber wir können 5 Bäume mehr stehen lassen'.
Stimmt schon, aber wenn ich den Strom rechne, der zusätzlich in meine Akkus reinmuß, dann sind die 5 Bäume schnell weg.
Ich kann eben nicht absteigen, wenn's zu steil wird.
(Ein paar Tage später stelle ich fest, dass ich nach ca. 20 Kilometer Fahrt, also mit einem Drittel Akkukapazität, gerade noch hoch komme.)

Zuhause angekommen, suche ich mir schon mal den Ordner mit den Texten heraus, mal sehen, was da so geht.
In der Klinik habe ich schon gemerkt, dass ich heftige Rückenschmerzen bekomme, wenn ich längere Zeit eine Gitarre umhängen habe.
An die Tasten habe ich mich noch nicht herangetraut, da macht meine rechte Hand noch ziemliche Probleme.
Ach, was soll's - ich geh da jetzt dran.
Jetzt weiß ich mal wieder, wozu Üben gut ist. Meine Finger erinnern sich regelrecht an die Bewegungsabläufe, werden von Mal zu Mal sicherer, ein unglaubliches Gefühl!
Die Titel, die ich so lange geübt habe, dass ich sie fast im Schlaf kann, die sind nach einigen Durchläufen wieder da. Na ja, fast, an den Feinheiten muß ich noch üben.
Bei einigen Songs tritt ein merkwürdiger Effekt auf, manche Teile sind noch komplett da, lassen sich auch leicht wieder abrufen. Andere Passagen aber sind komplett weg.
Ich hatte gedacht, dass es irgendwie anders wäre, wenn man über ein Jahr keine Klaviatur mehr unter den Fingern hatte, aber dieser Effekt ist schon krass.
Entweder es ist da, ein bisschen 'eingerostet', aber definitiv da, oder es ist weg, und dann ganz weg. Dazwischen gibt es nichts.
Da gibt's nur eins, die Löcher neu erarbeiten und üben, üben und üben.

Bis zum Gig ist das natürlich kaum zu schaffen, aber zum Glück habe ich ja noch Plan B.
So nach und nach habe ich mir ja früher schon meine eigene Begleitband programmiert. Mit einem kleinen Zusatzgerät kann ich damit einen Synthesizer ansteuern.
Falls ich mir mal die Hand verstauche, oder so, habe ich meine eigenen Einsätze nach und nach auch eingepflegt.
Da kann ich mir schon mal anhören, wie ich das gespielt habe und wenn's mit dem Üben nicht ganz reicht, dann ist mir bestimmt keiner gram, wenn ich die eine oder andere Passage aus der Konserve abrufe.
Oder ich gehe auf Plan C und lasse die schweren Pianosachen weg. Mit 2 Gitarren haben wir früher auch schon gespielt und den Leuten hat's gefallen.
Was soll’s, wichtig ist, dass die Stimme so ziemlich wieder da ist. Außerdem kommt es mehr darauf an, wieder mit meinem alten Partner auf der Bühne zu stehen.
Jaaa, guuut - bei mir ist das mit dem Stehen mehr bildlich gemeint. Viele an dem Abend werden uns von früher kennen und so manche wissen auch von meinem Unfall.
Schätze mal, die sind ziemlich neugierig, genauso wie ich. Mit der Klinikband habe ich jetzt zwar schon zwei Gigs abgeliefert.
Aber das ist ne Band, da bist du in der Gruppe. Wenn du dich da mal verhaust, dann geht das im Rauschen unter, wenn du nicht grad ein Solo spielst.
Hier treten wir als Duo auf. Wenn sich da einer verspielt, dann ist das, als ob du im Nachthemd auf dem Schulhof stehst.
Dann fällt das auf. Daran, dass man uns kennt und da außerdem noch eine gewisse Erwartungshaltung da ist, will ich gar nicht erst denken.
Aber unser Publikum ist im Großen und Ganzen eigentlich ziemlich gutmütig.
Aber auch ziemlich sachkundig.
Klar, die meisten haben fast alle unsere Balladen zu Hause im Regal stehen - im Original natürlich.

In der Woche darauf wollen wir uns treffen, um das Programm zusammenzustellen und die eine oder andere 'Klemmstelle' nochmal anzuspielen.
Wie ich noch meine Zweifel pflege, klingelt das Telefon. "Du, ich hab mich verguckt, der Gig ist erst nächste Woche"
Vom Gong gerettet, puuh! Erst nächste Woche, da kann ich noch das eine oder andere üben.