Wiegen

Es gibt Sätze, die man nie von einer Frau hören möchte. Egal, was du antwortest, es ist falsch. So mancher Comedian kann von dieser Tatsache prima leben, füllt ganze Fußballstadien.

Für uns Rollstuhlfahrer hat diese Frage schon essentielle Bedeutung. Hm, komisch, normalerweise bekomme ich von meinem Textverarbeitungsprogramm ab und zu so eine rote Linie unter manche Wörter, jetzt nicht. Essentiell, essenziell, mein Computer meckert keine der beiden Schreibweisen an, ist also mal wieder beides richtig. Gut dann kann ich bei der traditionellen Schreibweise bleiben. Essenziell sieht geschrieben irgendwie falsch aus. Das erinnert mich an meinen Opa. Der ging 2 Jahre in die Dorfschule, bekam mehr oder weniger den Gebrauch von Buchstaben und Zahlen kurz umrissen und gut. Damit hat er es bis zum Inhaber der Dorfkneipe, zum Molkereibesitzer und zum Bürgermeister gebracht. Jeden Geburtstag und jedes Weihnachten bekamen meine Schwester und ich eine Karte, von Opa von Hand geschrieben. Als ich so langsam verstand, was sich hinter den Begriffen Grammatik und Orthographie verbirgt, konnte ich mich Ausschütten vor Lachen. Opas Karten waren der Renner bei meinen Klassenkameraden. Bis meine Mutter das mitbekam. 

Nein, sie wurde nicht laut. 

Und von Gewalt hielt sie damals schon nichts. Den Begriff „gewaltfreie Erziehung“ kannte man in den 60ern noch nicht. Meine Mutter sagte bloß immer: „Wer schreit, hat Unrecht“ oder „Schläge sind keine Argumente.“ Sie war damals die tollste Frau überhaupt für mich. Inzwischen habe ich gelernt, dass es auch andere tolle Frauen gibt, meine zum Bleistift. Aber meine Mutter ist immer noch eine tolle Frau. 

Hallo, Thema...

Ist ja schon gut, also das Thema Gewicht ist für uns Rollstuhlfahrer ziemlich wichtig. Wir können nicht einfach mal ein paar Runden mehr joggen. Wenn wir zu schwer werden, kann es schon mal einen neuen Rollstuhl kosten. Der dann nicht mehr durch die frisch verbreiterte Badezimmertür passt. Dann sind schnell mal 5000 – 8000 Euronen weg. Die ich nicht habe. So ein Bauch verändert die ganze Sitzgeometrie. Am Morgen von Tag 0 meines neuen Lebens hatte ich ziemlich genau 100 Kilo, in Worten einhundert Kilogramm in Socken. Als ich das nächste Mal auf der Waage war, hatte ich knapp 90 – MIT Rollstuhl, der mit allen Anbauten locker 21 kg mit bringt.

Ich sah aus, wie der Tod auf Rädern. Das erste Mal seit Jahrzehnten musste ich essen, um zuzunehmen. Meine Finger weigern sich geradezu, es zu schreiben, aber anfangs musste ich mich regelrecht zwingen, zu essen. Meine liebste Essensversorgerin schleppte an, was die Taschen trugen: Gummibärchen, Schokoriegel, Kekse und was es da sonst noch so an Leckereien gibt. Die ersten 15 Kilo musste ich mich noch anstrengen, dann lief es von alleine. War das schön, ich konnte nach Herzenslust essen, was immer ich wollte, mein Diabetes war wie weggeblasen. Jedes Mal, wenn ich mich wog, waren ein paar Pfund mehr drauf. Irgendwie habe ich vergessen, bei 80 kg auf die Bremse zu treten und prompt hatte ich wieder mein altes Kampfgewicht. So lange ich in der Klinik lag, konnte ich jederzeit auf die Rollstuhlwaage im Keller fahren. Aber jetzt bin ich zu Hause, ohne Rollstuhlwaage. Wie soll ich jetzt mein Gewicht kontrollieren? Mit drei Hosen ist das ganz einfach. Wenn die dunkelgraue Hose passt, wiege ich 90 Kilo, spannt sie, dann habe ich ca. 93 kg. Wenn die schwarze Hose passt, dann habe ich 95 kg, spannt sie, dann sind es 97 kg. Passt die blaue Hose, dann habe ich 100 kg. 

Die blaue Hose spannt.

Hmm, wie komme ich an eine Waage? Bei einer meiner Einkaufstouren bin ich an der Raiffeisengesellschaft vorbei gekommen. Da wiegen die Bauern immer die Anhänger mit der Ernte. Im Nachbarort ist ein Entsorgungsbetrieb, die haben sogar noch eine genauere Waage. Da fahre ich mit dem Auto drauf, dann wird gewogen. Laut Papieren hat das Auto ein Leergewicht von x das ziehe ich vom zulässigen Gesamtgewicht y ab - öh da stimmt aber was nicht. Das kann nicht sein, dass ich über eine Tonne wiege. Ach ja, mit den ganzen Zusatzeinrichtungen bin ich ja ein Leicht-LKW. 

Also nicht ich, das Auto. 

Zulässiges Gesamtgewicht von 3,5 Tonnen. 

Ich will aussteigen, dann kann das Auto nochmal gewogen werden. „Wie lange dauert das denn noch, da warten auch noch andere?“ 

OK, dann fahre ich eben mit dem Rollstuhl zur Raiffeisengesellschaft, wenn es wieder wärmer ist. Das war nichts, nächster Versuch. Ein Brett über die Badezimmerwaage gelegt, mit dem Rollstuhl drauf - prima, wo ist die Anzeige? Unterm Brett – Toll, vorher denken, dann wiegen.

Beim Herausfahren aus dem Bad sehe ich meine Tochter auf dem neuen Familienspielzeug stehen, dem Balancierbrett zur Spielekonsole. Brett drüber, mit dem Rollstuhl drauf, ich wiege 27,5 kg, abzüglich Rollstuhl und Brett. Was wiegt eigentlich das Brett? Meine Tochter schnappt sich das Ding, verschwindet im Bad. „19,5 Kilo“ Mal sehen, 27,5 – 21 für den Rollstuhl = 6,5 Kilo, - 19,5 für das Brett = -13. ICH KANN FLIEGEN!!!

Wenn ich Nachbars Hund, der 13 Kilo wiegt auf den Schoß nehme, dann wiege ich genau 0 kg. Oder könnte es ein Rundungsfehler sein, eine Messtoleranz? Das Handbuch gibt Auskunft. Das Balancierteil hat eine Maximalbelastung von 150 kg. Das Brett hat 19,5, der Rollstuhl 21, meine Klamotten nehme ich mal mit 2 kg an, also 19,5 + 21 + 2, zwei hin, eins im Sinn – ich komme im Kopf auf 42,5 kg. Mit 107,5 kg wäre ich noch genau im Messbereich gelegen. Dann haben wir das Balancierbrett mit aufgelegtem Brett tariert. Wird das jetzt automatisch abgezogen, oder muss ich das nochmal dazu addieren? Und wo kommen jetzt die 27,5 Kilo her? Vielleicht gibt es ja einen Überlauf bei 150 Kilo? Dann würde ich mit Brett und Rollstuhl 177,5 Kilo wiegen. - 42,5 macht im Kopf so ungefähr 135 – nee, nie im Leben wiege ich doppelt so viel, wie bei der Anprobe des Rollstuhls. Dann würde ich nicht mehr rein passen. Also, ganz logisch gedacht, nochmal messen, komplett mit Brett Rollstuhl, Klamotten und mir. Dann ab ins Bett, Rollstuhl mit Brett und Klamotten noch mal ohne mich wiegen und – „Papa, dürfen wir die Konsole wieder haben?“ „Na klar, ich wollte bloß mal was ausprobieren“.

Vom Gong gerettet.

Aber wie wiege ich mich jetzt?

Im Internet finde ich eine Fischwaage bis 200 kg für kleines Geld. Zwei Tage später habe ich sie. Die hänge ich in die Strickleiter über meinem Bett ein. 

Wie, Strickleiter? Viele Behinderte haben ein Pflegebett, wie man sie aus dem Krankenhaus kennt, mit einem Galgen darüber, an dem man sich auch mal hoch ziehen kann. Wir wollten aber nicht, dass unser Schlafzimmer wie ein Krankenzimmer aussieht. Unser Bett hat zwei getrennte Sprungrahmen. Also haben wir meinen Sprungrahmen gegen einen elektrisch verstellbaren Rahmen ausgetauscht. Statt eines Galgens hängt bei uns eine Strickleiter von der Decke. Sollen sich eventuelle Besucher ruhig ihre Gedanken machen. 

Na, jedenfalls haben wir die Waage in die Aufhängung der Strickleiter eingehängt. Dann haben wir mein Bett ganz hoch gefahren, unter meinen Achseln, meinen Oberschenkeln und meinen Knien Gurte durchgezogen und in die Waage eingehängt. 

Und jetzt gilt’s. Das Bett fährt runter. Die Gurte hätten ein wenig breiter sein können, die tun ganz schön weh. Egal, weiter. Puh, zieht das. Noch ein paar Zentimeter. 

Es ist soweit. Ich hänge frei unter der Waage, zwischen meinem Po und dem Bett ist ein Zentimeter Platz. Das reicht, um die Waage abzulesen. Von der Figur her dachte ich, ich wäre schwerer. Na klar, ich habe die verschwundenen Beinmuskeln nicht mit einkalkuliert. 

Gewicht festgestellt, jetzt seid bitte so lieb und fahrt das Bett wieder hoch. Meine liebste Wäägemeisterin und unsere Kinder müssen sich das Lachen verkneifen. Es sieht aber auch zu behindert aus, wie ich da wie die Gurke im Einkaufsnetz unter der Decke baumele. 

Danke, jetzt weiss ich wenigstens, wie ich mein Gewicht kontrollieren kann. Für den Transfer in die Badewanne habe ich mir einen kleinen Lifter beantragt. da kann ich später die Waage einhängen und mich wiegen, wann immer ich will.

Wieviel? Na, ein bisschen Privatsphäre hätte ich denn doch gerne.