Mucke geht immer

Und mal wieder bin ich auf dem Weg. Hinten im Kofferraum drängt sich eine Gitterbox mit Pflegematerial und eine mit den wichtigsten Musikutensilien - Kabel, Ersatzsaiten, Mikro, was man halt so braucht – um den Platz mit einer Reisetasche, Gitarrenkoffer, Notenständer, Mikroständer. Wenn das kein Grund ist, das Wochenende mal ein paar Stunden früher anzufangen, dann kenne ich keinen.

Im Radio haben sie etwas von der Reparatur der Brücke erzählt, über die ich fahren muss, die Schilder stehen auch schon, demnächst wird es morgens wohl mal wieder Verkehrschaos – Hallo, wieso bremst denn die Träne da vorne. Jetzt macht der noch den Warnblinker an, spinnt denn der? Eben hat er mich noch mit knapp 200 überholt, jetzt geht er in die Klötze.

Schon haut meine Hand die Bremse nach vorne. Mein Vordermann bremst nicht, der wirft Anker, so wie der verzögert. Zum Glück habe ich mir angewöhnt, mehr als genug Abstand zu halten. Also, gute Bremsen hat der Typ mit seinem unbequemen Kleinwagen aus Zuffenhausen. Bei den Verzögerungswerten kann er jetzt das Lenkrad bei seinem Zahnarzt abgeben. Der kann die Abdrücke von den Schneidezähnen bestimmt gebrauchen.

Ich stehe inzwischen auch. Meine liebste Autopackerin hat mir die Sachen aber gut in den Kofferraum gepackt. Da rührt sich kein bisschen. Ich mach es mir erst mal bequem, da vorne geht gar nichts mehr. Mein Rollstuhl steht auch noch da, wo ich ihn hingestellt habe. Im Getränkehalter am Rollstuhl steckt noch meine Trinkflasche. Haha, die wollte ich eigentlich auf den Beifahrersitz legen. Jetzt bin ich froh, dass ich das vergessen habe. 

Eineinhalb Stunden habe ich die Brücke erreicht. Kein schlechter Schnitt für knapp zwei Kilometer. Drei Fahrspuren verengen sich auf eine und genau da waren zwei Autofahrer geteilter Meinung darüber, wie das Reißverschlußsystem funktioniert. Der Tag fängt gut an, ich bin noch nicht richtig weg und hab schon fast zwei Stunden Verspätung. Also, dann fahren wir mal ein wenig zügiger.

Mein Mentaltraining hat sich wirklich bezahlt gemacht Normalerweise würden mir meine Herzklappen jetzt schon das Schlagzeugsolo aus In-A-Gada-Da-Vida spielen. Nein, ich bin immer noch ruhig und gelassen. Aber jetzt lasse ich die Pferde aufs Pflaster los. Mein Diesel lässt unter mir ein wohliges Knurren hören. 

Einige erfreulich ereignislose Zeit später rolle ich vor meinem Ziel aus. Da hat sich doch so eine Pappnase direkt vor den Eingang gestellt. Heh, das ist mein Platz! Immer diese Rollstuhlfahrer, wollen dauernd Sonderrechte. Unmögliches Volk!

Ein Stück weiter finde ich einen Platz, wo ich meinen Lift ausfahren kann. Erstmal reinfahren, Bescheid sagen, dass ich da bin und den nächstbesten Zivi verhaften, dass ich meine Klamotten ausgeladen kriege. Wenn mir nur mein Kreuz nicht so weh täte. Irgendwie habe ich mir einen Wirbel leicht verkantet und der drückt jetzt auf einen Nerv. Ich könnte die Wand hoch gehen! Aber das hilft mir jetzt nichts, jetzt ist erst mal Mucke angesagt.

Durch meine Verspätung ist natürlich mit Proben nicht mehr allzu viel drin. Egal, dann spielen wir die schlimmsten Sachen kurz an, der Rest gibt sich beim Bügeln. Das ist das Angenehme bei ner Cover-Band, die Titel hat man so oft gespielt, da muss man sich nur noch über die Tonart einig sein und zusehen, dass man gleichzeitig anfängt und aufhört. Die Gesangssätze haben wir so intensiv geübt, ich glaube, da kann man mich nachts wecken. Die Stimme ist auch schön warm, auf der Fahrt konnte ich herrlich über alle möglichen Deppen, Torfnasen, Anfänger, Raser, Bremser und sonstige Verkehrsunfähigen schimpfen, das sollte ich immer so machen. 

Aus einem kurzen Anspielen wird prompt eine kurze aber heftige Jam-Session. So liebe ich das! Unser Frontmann hat seinen ersten Song geschrieben. Ehrensache, dass ich mir den anhöre, gar nicht mal schlecht, wenn der den bis zum nächsten Gig fertig kriegt, gibt’s demnächst ne Welturaufführung. Wir malen uns das so richtig aus, wie man das aufzieht. 

Viel zu schnell ist die Generalprobensession vorbei. Das Adrenalin steht mir noch bis Oberkante Augenbrauen, komm, noch ein schnelles Schorle, dann kann man immer noch ins Bett gehen. 

Ich bin noch nicht richtig im Casino, da fliegt mir etwas Helles entgegen, zwei Arme wickeln sich mir um den Hals. Unsere kleine Praktikantin, die sich damals getraut hat, mich auch mal etwas persönliches zu fragen, hat gehört, dass ich heute da sein soll und hat sich rein auf Verdacht in die Bahn gesetzt. Könnte ja sein, dass man mich sieht. Ist das lieb! Sie ist jetzt in der Ausbildung und hat sich ziemlich raus gemacht, so rein optisch. Gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, das sie ein halbes Jahr jünger als meine Jüngste ist. Funktioniert wie immer prima. Schade. 

Da gab’s schon mal eine, Freiwilliges Soziales Jahr. Die kam kurz vor mir in der Klinik an. Die hat mich auch ein Stück weg begleitet, den ersten Rollstuhl-Fußboden-Transfer mit mir geteilt. Hat dann auch weiter gemacht und ging nochmal in die Schule. Auch die sah nach ein paar Monaten sensationell aus. Vielleicht melde ich mich auch mal da an. 

Als die anderen erkennen, wer da im Anrollen ist, gibt es natürlich ein großes Hallo. Na klar, wenn man monatelang in der Klinik feststeckt, hier „in the middle of nowhere“, da ist man über jede Abwechslung dankbar. Manche sind schon ein paar Jahre hier. Anschlußheilbehandlung, Reha, Umschulung, die waren schon da, als ich als ahnungsloser Frischling hier aufschlug. 

Ein Schorle, hab ich gesagt, das ist natürlich gleich verdunstet, aber heute bin ich eisern, morgen wird’s heftig.

Kaum hat mein Kopf das Kopfkissen berührt, schon gibt mein Handy ein entsetzliches Geräusch von sich. Irgendwer hat in dieser Sekunde meine Uhr vorgestellt und es draußen hell gemacht. Der Absacker gestern Abend war vielleicht doch nicht so eine gute Idee gewesen. Hinter meinen Augen bewerfen sich ein paar Zwerge mit riesigen Gongs. Was ist das denn? Könnte mir mal jemand das Messer aus dem Kreuz ziehen? 

Die Schmerzen waren so stark, dass ich mich im Schlaf nicht entspannen konnte. Jetzt sind die Muskeln total verkrampft. Na herrlich, das wird ein Spitzen-Tag! „Guten Morgen“ Hat die Pflege hinter der Tür gewartet? Routiniert macht sie mich fertig zum Aufstehen. Ausräumen, waschen, das tägliche morgendliche Ritual, das mich bis an mein Lebensende begleiten wird. Eigentlich sollte ich mich schon lange daran gewöhnt haben. Kann man das? Keine Ahnung, in ein paar Jahren werde ich es wissen.

Plötzlich schimpft sie los: „Oh Mann, bin ich dumm!“ Ich trage ziemlich neue Kompressionsstrümpfe. Die sind in den ersten paar Tagen schon mühsam anzuziehen. Nach ein paar Wäschen gibt sich das, bis sie so ausgeleiert sind, dass ich wieder neue brauche. Maßgestrickte. Für ca. 400 Euronen pro Paar. Man gönnt sich ja sonst nichts. Damit der richtige Strumpf an den richtigen Fuß kommt, ist im rechten Strumpf ein Etikett mit meinem Namen und einem R für „R“ichtiger Strumpf, wie eine Pflegerin einmal sagte. Im linken Strumpf ist nur mein Name drin. Die Schwester zieht mir die Strümpfe aus und mit vielem Ächzen wieder an. Ist ein ziemlicher Akt. Kontrolle - „So ein Mist, so blöd kann doch kein Mensch sein!“ Der Strumpf mit dem R ist wieder am linken Bein. Mir kommt da ein Verdacht, aber bevor ich etwas sagen kann, hat sie mir die Strümpfe wieder ausgezogen. Es gibt Situationen, da hält man als Mann besser die Klappe. Speziell, wenn man halb nackt vor einer Frau liegt, deren Blutdruck gerade im ATÜ-Bereich ankommt. Und da ist es auch egal, ob es die eigene Frau ist, oder nicht. „Das kann ja wohl nicht wahr sein!“ Sie kam auf den gleichen Gedanken und hat ihn auch gleich überprüft. Ich habe zwei rechte Strümpfe an. Die beiden linken sind zu Hause in der Wäsche. Mmh, an meiner Kofferpacktechnik muss ich noch arbeiten.

Es ist schon lustig, viele, die ich in meiner Zeit hier kennen und mögen gelernt habe, sind gerade da. Die Frauen sind in dieser Gruppe deutlich überrepräsentiert. Das macht mir natürlich Spaß. Wenn eine Frau sich freut, dich zu sehen, nimmt sie dich in den Arm. Ein Mann drückt dir kräftig die Hand und haut dir im Idealfall noch auf den Rücken. Klar, welche Begrüßung ich bevorzuge. So langsam stößt das den schlichteren Gemütern in meinem männlichen Bekanntenkreis auf. Die Fragen werden so langsam eindeutiger. Kann sich eigentlich niemand vorstellen, dass man sich einfach bloß gut verstehen kann? Außerdem, ich bin vom Nabel abwärts gelähmt. Noch Fragen? dass einige von denen, die mich nicht mit Handschlag begrüßen, ganz schnell mitbekommen, was hier für ein Eindruck entsteht, ist logisch. So subtil jemanden aufs Glatteis zu führen, ich glaube dazu muss man eine Frau sein.

Langsam wird es Abend, Zeit für Aufbau und Soundcheck. Eins muss man der Truppe lassen, so schnell mir so wenig Leuten aufgebaut habe ich selten. Und im Rollstuhl stehe ich eher im Weg. Und die Soundchecks sind auch nicht gerade für ihre Überlänge bekannt. Aber an einem erkennt man die routinierten Musiker. In der ganzen Welt beginnt der Aufbau traditionell mit den Worten: „Erst ma 'n Bier!“ 

Fast hätte ich es vergessen. Das, was für mich Musik eigentlich ausmacht. Früher haben wir wochenlang an den Arrangements gefeilt, haben versucht, den Gesang noch ein bisschen perfekter zu machen. Hier noch ein Riff, da eine Rassel, "Lass uns mit ner Septim aufhören..."

Diesmal spielen wir einfach drauflos, wollen unseren Spaß haben, ziemlich schnell hat sich wieder dieses Jam-Session-Gefühl eingestellt.

Und bei ner Jam-Session, da kann auch schon mal ein schiefer Ton dabei sein - hallo, das ist live! 

"He, das ist Rock 'n Roll!" Der Drummer einer zu Unrecht vollkommen unterschätzten magdeburger "Teenie"-Band hat es kurz und treffend auf den Punkt gebracht.

Unser Langer. Eigentlich spielt er ja in einer komplett anderen Liga. Wir haben uns gefreut, als er sagte, er kommt für ein paar Titel vorbei. Mit breitem Grinsen bleibt er. "Einen noch, aber dann muss ich wirklich...“ In der letzten Pause kann er sich endlich aufrappeln. 

Musik ist bewiesenermaßen die Sprache der Emotionen. Und Spaß ist schließlich auch ne Emotion, sogar ne ziemlich mächtige. Und Spaß haben an diesem Abend alle, wir, unser Publikum, auch den Mädels hinterm Tresen klebt ein Dauergrinsen im Gesicht.

Und dann steht eine vor unserem Frontmann. Na gut, so ganz nüchtern ist sie nicht mehr. Sie tanzt ihn an, schaut ihm tief in die Augen. Also das ist kein Tanz, das ist eine getanzte Verführung. Gleich kommt ihm mit einem lauten Pfeifen der Dampf aus den Ohren. Sie tanzt vor ihm, immer einen Zentimeter vor einer Berührung. Alle Achtung, das ist Körperbeherrschung! Auf beiden Seiten. Gerade, als seine Muskeln zucken, jetzt packt er zu, dreht sie sich weg, tanzt den nächsten an. Ehrlich, so lasse ich mir gerne mal die Show stehlen. Bei uns alten Knochen passiert das viel zu selten, das ist Balsam fürs Ego, sind wir doch mal ehrlich. 

Ich hab's nicht geglaubt, aber man kann in einem Rollstuhl wirklich tanzen. Und das sieht gar nicht mal so bescheuert aus, wie ich befürchtet habe - im Geigentul! So ne Rotte Rollis, die abgeht wie ein rotes Moped - zu unserer Mucke, das hat was.

Beinahe hätten wir vor lauter Perfektionsstreben den Spaß übersehen und das wäre dann wirklich bescheuert gewesen.

Aufbauen, Spielen, Spaß haben - und schon fliegt die Kuh! Gut, wenn man Freunde hat, die einen wieder auf die richtige Spur schubsen. Und jetzt brennt die Luft, jetzt packen wir die Dauerbrenner aus. Fürstenfeld, Westerland, Schi foan, zu guter Letzt die kleine Eva von den Flippers. Schönes, romantisches Vorspiel, „Weine nicht, kleine...“ Dann haue ich den Verzerrer rein, die Drums hämmern einen Speed-Punk, „Eeee Vaaa“ die raue Stimme unseres Frontmanns röhrt wie ein Leopard-Panzer im Alarmstart. Zum Glück wohnen die Flippers eine halbe Autostunde weg, die würden uns mit unseren eigenen Gitarren den Schädel einschlagen. Egal, was du spielst, gegen Ende wollen die Leute einfach die alten Gassenhauer hören. Ich habe mich jahrelang geweigert, hört mal, ich bin ein alter Rocker, das ist nicht meins. Bis ich mich mal breit schlagen ließ. Mensch, hat das Laune gemacht. Egal, wie schnell sich der allgemeine Geschmack ändert, das ändert sich kaum.

Aber eins hat sich wirklich geändert. Früher konnte man nach einem Gig noch mal, na sagen wir mal das Adrenalin abbauen. Nicht gleich in die Koje - After Show Party. Heute, wenn du abgebaut hast, ist höchstens noch die Putzkolonne am Start, oder der Hausmeister, der abschließen will. Und Hausmeister gehören nicht zu meinem Beuteschema.

Aber das Schlimme dabei ist, du findest das gar nicht so besonders traurig.

Weil dein Körper schreit: "Jetzt ist gut Alter, Zeit fürs Bett!"

Das Alter? 

Oder wird man endlich vernünftig?

Der Grund ist viel profaner.

Reiner Materialverschleiß.