Mal schnell ins Dorf

Das Telefon klingelt, die Apotheke ist dran. Meine Medikamente sind eingetroffen, ich kann sie holen. Mmmh, gerade jetzt bin ich allein zu Hause. Egal, das kann ich auch so, meine Zugmaschine steht in der Garage, an- und abkoppeln kann ich sie alleine. Aber wie komme ich raus? Einen kleinen Lift habe ich schon lange beantragt, bis dahin behelfe ich mir mit ein paar Alu-Schienen, die von der Terrasse in den Hof gehen. Jetzt muss ich nur sehen, wie ich die Bude zu bekomme. Unsere Terrassentür hat eine sehr hohe Schwelle. Als Fußgänger ist das gar nicht so wild, die paar Zentimeter. Für einen Rollstuhlfahrer ein kaum zu überwindendes Hindernis. Mit ein paar Holzkeilen, einer halben Tischplatte und einem alten Gitterrost habe ich mir eine provisorische Rampe gebastelt. Raus komme ich, nur muss hinter mir jemand zu machen. Ich rufe also unsere Nachbarin an. Prima, die ist schon mal daheim und macht gerne zu. Jacke an, Tür auf, und schon sause ich meine Alurampe hinunter. Bisschen voreilig, der Garagenschlüssel liegt drinnen auf seinem Platz. 

Das war jetzt wieder schlau, wie komme ich jetzt an meine Zugmaschine. Die Nachbarin bitten? Das wäre ungefähr so, als würde ich in einer fremden Stadt nach dem Weg fragen. Ich alter Trapper werde doch wohl eine Lösung finden. Die ist auch ganz einfach – zu Fuß ins Dorf. Bei mir heißt das, die ganze Strecke mit der Hand den Rollstuhl antreiben. Das gibt Muckis!

Der Gehweg könnte auch ein bisschen gerader sein. Damit das Wasser ablaufen kann, sind Gehwege immer etwas zur Straße hin geneigt, mein Rollstuhl hat also immer ein wenig Linksdrall. Das kann ich ausgleichen, indem ich mit links einfach etwas fester antreibe. So ungefähr 20 Meter weit, dann fängt die ungleiche Belastung an, in der Schulter weh zu tun. Probieren wir mal etwas anderes. Ich ziehe die rechte Bremse etwas an, so dass sie gerade auf dem Reifen aufliegt. Jetzt fahre ich geradeaus, aber ich habe das Gefühl, dass es bergauf geht. Außerdem ist der Abrieb am Reifen auch nicht von schlechten Eltern. Nach einigen Versuchen habe ich herausgefunden, dass es am leichtesten geht, wenn ich immer, wenn die Schulter ganz besonders laut schreit, die Straßenseite wechsele.

Gerade habe ich mich mal wieder auf die andere Seite gekämpft. Das ist gar nicht so einfach. Den Kippschutz habe ich im Haus nicht dran. Den brauche ich nur, wenn ich draußen unterwegs bin und die Strecke nicht kenne. Ich schaue also, ob genügend Platz zwischen zwei Autos ist, sprich bis zum Horizont kein Auto kommt. Dann drehe ich herum und fahre rückwärts bis zur Bordsteinkante. Ich rutsche im Sitz so weit zurück, dass ich mich weit nach vorne aus dem Stuhl lehnen kann. In dieser Position kann ich nicht so leicht nach hinten kippen. Langsam fahre ich jetzt rückwärts über die Bordsteinkante, Dabei lasse ich die Greifreifen durch die Hände rutschen. Wenn die Hinterräder aufsitzen richte ich mich ein ganz klein wenig auf, damit die Vorderräder entlastet werden. Vorsichtig, weil ich jetzt schräg stehe, nehme ich den Oberkörper langsam hoch. Wenn ich zu schnell bin, haut es mich nach hinten um. Das ist immer dann ganz besonders dämlich, wenn ich gerade rückwärts auf die zum Glück nicht allzu sehr befahrene Dorfstraße fahre. Wenn die Vorderräder direkt an der Kante sind, fahre ich gekippt ein paar Zentimeter zurück, bevor ich die Vorderräder ganz herunter lasse, sonst schlägt das Fußbrett auf der Bordsteinkante auf. Dann drehe ich mich so herum, dass ich den näher kommenden Verkehr sehen kann. In der nächsten Lücke rolle ich auf die andere Seite, drehe mich wieder herum und zieh mich mit den Hinterreifen den Bordstein hoch. Dabei lehne ich mich im Sitz weit zurück, sonst kippe ich nach vorne aus dem Stuhl. Sobald die Hinterräder oben sind, ziehe ich mit einem beherzten Ruck die Vorderräder nach, bevor mein Körper merkt, dass er sich ja eigentlich so gar nicht halten kann. Ein kleiner Schwenk nach links oder rechts, je nachdem und schon rolle ich den Gehweg weiter entlang, je nach Stimmung ein unanständiges Liedchen pfeifend.

Herrlich, hier ist der Weg fast gerade und ich könnte so richtig Gas geben, wenn nicht so ein schönheitsversessener Hausbesitzer auf die Idee gekommen wäre, gerade jetzt sein Haus neu zu streichen. Und weil alle seine Kinder Zwerge von weniger als vier Meter sind, muss er natürlich auch ein Gerüst haben. Das genau da steht, wo der Gehweg so schön eben und glatt ist. Gemein!

Also das Ganze nochmal, nicht zur Strafe nur zur Übung. Drehen vor rutschen, rückwärts runter, drehen, rüber, drehen, zurück rutschen, ziehen, hopp, drehen und weiter geht’s. Gift könnt' ich ihm geben! Wer stellt denn mitten auf den Weg eine Treppe? Das muss früher mal das alte Rathaus gewesen sein. Eine schöne lange Freitreppe führt ins Hochparterre und lässt vom Gehweg vielleicht zehn Zentimeter frei. Na gut, es könnte auch ein knapper halber Meter sein. Ein ziemlich knapper halber Meter, denn mit einer Spurbreite von 66 cm komme ich gerade so durch. Was macht eigentlich jemand mit einem Kinderwagen? Die Straßenseite wechseln?

Nach der nächsten Kurve kommt eine Straßeneinmündung. Hier sind die Bürgersteige so tief herunter gezogen, dass ich vorwärts die Straße überqueren kann. Das sieht nicht nur um einiges eleganter aus, das ist auch ne ganze Ecke schneller.

Und da ist auch schon die Apotheke. Mit ein paar frisch renovierten und wieder auf alt getrimmten roten Sandsteinstufen davor. Wunderschön, so eine alte, restaurierte Ratsapotheke. Das mehrere hundert Jahre alte Haus war immer eine Apotheke gewesen, beachtlich. Für Rollstuhlfahrer gibt es einen besonderen Service in Form einer Klingel in erreichbarer Höhe. 

Vor die gerade ein besonders rücksichtsvoller Mensch sein Fahrrad stellt. Ich warte, bis er die Treppe hoch ist und nach der Tür greift. „Entschuldigung!“ Keine Reaktion. OK, Bühnenstimme einschalten, „ENTSCHULDIGUNG!!!“ So eine zackige Wende hätte meinem Spieß bei der Bundeswehr bestimmt gefallen. „Bitte entschuldigen Sie, würden Sie bitte in der Apotheke sagen, dass ein Rollstuhlfahrer vor der Tür steht? Die wissen dann schon Bescheid. Irgend so ein Analphabet hat sein Fahrrad genau vor die Klingel gestellt. Der hat bestimmt das Schild nicht gesehen.“ Die zarte Röte, die er nur zu gerne vermeiden würde, hätte Renoir in seiner Aquarellphase zu Schreien des Entzückens verlockt. Passt farblich aber prima zu den geplatzten Äderchen an seiner Nase. Ich könnte jetzt Rückschlüsse ziehen zwischen seiner Nase und der Tatsache, dass er mit dem Fahrrad fährt, obwohl sein Haltungsschaden auf 60 - 80.000 Kilometer Autobahn jährlich hindeuten. Bei der Fahrleistung hat sein Führerschein sich die paar Wochen Urlaub aber auch hart verdient.

Na ja - Um das Schild zu übersehen, muss man schon blind sein. Aber so ist das hierzulande. Wenn etwas nicht gerade mit der Todesstrafe bewehrt ist und außerdem, man geht ja nur mal schnell in die Apotheke, wird schon keiner – ja was? 

Klingeln wollen? 

Ich wette, der hat mit keinem Funken daran gedacht, warum hier kein Fahrrad abgestellt werden darf. Wetten, dass er das nächste mal dran denkt?

Die Apothekerin kennt mich, hat mich vermutlich an der Stimme erkannt und hält die Tüte mit den Medikamenten schon in der Hand. Da muss ich noch dran arbeiten, meistens hört man mich schon, bevor man mich sieht. Immer mag ich das nicht. Sie hat das Ganze mitbekommen, sagt aber nichts. Klar, das ist schließlich auch ein Kunde. Der Blick, den sie dem Typen hinterher wirft, sagt auch genug. Ein leichtes Grinsen kann sie aber nicht ganz verbergen, will sie auch gar nicht. Sie steckt die Rezeptgebühr ein, die ich heute mal passend dabei habe und stopft mir die Medikamententüte in den Rucksack. Die darf das, auch ohne zu fragen. Heute ist der Verkaufsraum ziemlich voll – Grippezeit. Schade, meistens hat sie Zeit für einen kleinen Plausch. „Ich habe Ihnen noch einen Tee eingepackt, probieren Sie den mal, der tut gut bei dem Wetter“. Die Gute könnte ein Marketing-Handbuch schreiben. Sie tut es aber nicht wegen des Marketings, sondern, weil sie aus dem Bauch heraus weiß, wie man seine Kunden behandelt, damit sie wieder kommen. Und weil sie ne ganz liebe ist, behaupte ich jetzt einfach mal. 

Der Rückweg verspricht erfrischend zu werden, jetzt kenne ich die Hindernisse ja. Die Hindernisse schon, aber an die leichten Steigung in der Ortsmitte habe ich natürlich nicht gedacht. Die ist jetzt ein Gefälle, und was für eins! Die Handschuhe liegen unter der Medikamententüte im Rucksack. Auch gut, da werde ich gleich wissen, ob ich mir inzwischen genug Hornhaut auf den Händen aufgebaut habe, um auch so zu bremsen. Mein Rollstuhl hat schon Bremsen, aber die haben die gleiche Aufgabe, wie die Handbremse im Auto. Die benutze ich bloß, wenn der Rollstuhl schon steht, damit er nicht weg rollt. Bremsen tue ich normalerweise mit den Daumenballen an den Greifreifen. Das kann dann auch schon mal ziemlich warm werden.

Und schon bin ich vom Bürgersteig herunter auf die Straße gefahren. Ein, zwei Antriebsschläge auf die Greifreifen und ich rolle. Grinsend lehne ich mich lässig zurück und lasse den Rollstuhl ein wenig schneller werden. Die Kurve, kurz bevor diese dämliche Treppe mitten auf dem Gehweg steht, die nehme ich locker, leicht mit dem linken Handballen bremsend. Vor der Dönerbude wird das Gefälle noch schöner. Jetzt wird mir langsam mulmig. Die nächste Kurve ist nämlich ziemlich unübersichtlich und dahinter kommt gleich eine Brücke. Der Bach, über den die führt, ist zwar nicht besonders tief, aber für jemanden, für den die untere Körperhälfte bloß Dekoration ist, kann schon eine größere Pfütze eine ziemliche Spaßbremse sein. Á propos Bremse, mir fallen meine ersten Physikstunden ein.Reibung erzeugt Wärme. Viel Reibung erzeugt viel Wärme. Und ich werde immer schneller.

Da ist auch schon die Kurve. Ich haue den Handballen auf den rechten Greifreifen. Autsch, ist das heiß! Das halte ich nicht aus! Im Radfahrertempo sause ich um die Kurve. Aus den Augen­winkeln sehe ich, wie einem Gast in der Dönerbude das Kinn auf die Brust klappt. Irgendwo in meinem Hinterkopf höre ich jemand lachen, merke gar nicht, dass ich das bin. Toll, was eine kräftige Dosis Adrenalin so anrichtet. Kräftige Dosis ist gut, ich habe das Gefühl, mir tropft es gleich aus den Ohren. Die Brücke – DIE BRÜCKE! Ein Stoß von unten, Holperdieholper, noch ein Stoß, und die Brücke liegt hinter mir. Jetzt steigt die Straße leicht an und ich werde wieder langsamer, bin gerade noch so schnell, dass ich in die Straße zum Bahnübergang einbiegen kann, ohne meinen Rollstuhl neu anzutreiben. 

Huiii, das waren bestimmt 15 – 20 km/h. Angefühlt haben sie sich wie 200!!! Während sich mein Puls langsam normalisiert, laufen auch meine Gedanken wieder in geordnetere Bahnen. Puuuh, zum Glück kam mir kein Auto entgegen. Ich sehe zu, dass ich wieder auf den Gehweg hoch komme, puste sicherheitshalber auf meine Handballen, während ich sie mir genauer anschaue. Der rechte Ballen ist gar nicht mal so rot, wie er sich anfühlt. Ein bisschen mehr Hornhaut kann aber bestimmt nicht schaden.

„Heh, bist Du das wirklich?“ „Hä?“ Ich schaue verdutzt hoch, die Stimme kommt mir bekannt vor. Ich habe gerade noch Zeit, die Wirtin von unserer alten Sessionkneipe zu erkennen, da fliegt sie mir schon um den Hals. Kein entsetztes Gesicht, kein Zögern, die Freude, mich zu sehen, überwiegt. Die Kneipe mussten sie und ihr Partner leider aufgeben. Schade, aber hier auf dem Land ist das Konzept einer Kultur- und Musikkneipe nicht ganz so leicht zu realisieren. Sie hat aber schon wieder ein neues Projekt am köcheln. Sie ist wirklich ein echtes Stehaufmädchen, die sich einfach nicht unterkriegen lässt. Wenn sie eine Idee hat, probiert sie sie einfach aus. Sie gehört zu den Menschen, die auf einiges an Komfort verzichten können, nur um auszuprobieren, ob eine Idee sich nicht doch vielleicht einmal selbst trägt. dass sie und ihr Lebensgefährte im Dorf nicht ganz unumstritten sind, ist für sie so ungefähr so wichtig wie die berühmten umgefallenen chinesischen Reissäcke. 

Auf dem weiteren Heimweg fällt mir noch einmal auf, wie sich ihre Reaktion von der anderer unterschied, die mich zum ersten Mal im Rollstuhl wieder sahen. Irgendwann hatte sie, glaube ich, mal erwähnt, dass sie auch ein Familienmitglied im Rollstuhl hat, das sie noch so ganz nebenbei pflegt. Ach ja, einen Job als ganz normale Angestellte, mit dem sie das alles finanziert, hat sich ja auch noch. 

Irgendwann in der nächsten Zeit sollte ich mich mal mit ihr über das Thema Selbstmanagement unterhalten. Ganz dringend. Da kann ich viel lernen.