Lich un Luf

Lich un Luf gib Saf un Kraf

Einer der Lieblingssprüche meines Cousins. Der von den vielen, der auch im Lehrbetrieb gelandet ist. Aber so richtig mit Lehramtsstudium und Staatsexamen und Besoldung. Da komme ich als kleiner IT-Trainer nicht mit. Aber die Begeisterung für den Beruf, die haben wir gemeinsam. Genau an diesen Cousin muss ich gerade denken. Wir haben uns inzwischen auch ein paar Jahre nicht mehr gesehen aber ich höre ihn immer noch, wie er den Spruch aufsagt. Und heute passt der so richtig. Wie Bobbes auf Eimer.

Wie ich darauf komme? Weil die Sonne scheint! Wie, das ist doch nichts Besonderes? Das ist wohl was Besonderes!

Gestern Abend sag ich noch, ich kann dieses Zwielicht nicht mehr sehen, da wird ja der Dalai Lama depressiv! Wegen der kleinsten Kleinigkeit geraten wir uns in die Haare. Meine Gitarre schaut mich aus der Ecke an, als wollte sie sagen, siehst Du mich überhaupt noch unter der dicken Staubschicht. 

Und dann die Kälte. Monatelang diese Kälte. Vor ein paar Wochen war der Tanklaster da. Wir mussten wirklich Öl nach tanken! Wenigsten waren die Preise diesmal erträglicher. 

Das Wetter - Keine Chance, mit dem Rollstuhl raus zu kommen. Und immer wieder das Licht. Das nicht da ist. Im Dunkeln aus dem Haus, im Dunkeln wieder heim. Die Straßen sind eine Mischung aus Matsch, Salz und Dreck. 
Heute früh beim Kathetern denke ich, irgendwas ist anders. Meine Pflegerin, die sonst immer freundlich ist, kommt mit einem fröhlichen Lachen zur Tür herein. Na, alles klar? Wieso ist die denn so lustig? Dann fällt es mir auf. 

Draußen ist es hell. 

Nicht diese Helle, bei der man sagt, ich sehe alles. Prima, wir können das Licht aus machen. Nein, es ist hell. So richtig hell. Die Sonne scheint mir direkt aufs Bett. 

Die Sonne.

Gibt es die überhaupt noch? Klar, sonst wären wir längst erfroren. Sagt der Kopf. Aber der Bauch, der braucht länger. 

Die Sonne, da ist sie wieder. Ohne Wolken, so dick, dass nur dieses Zwielicht durch kam. Nein, sie scheint direkt vom blauen Himmel. Sofort reagieren die Menschen anders. Als hätte man einen Schalter umgelegt. Aus dem morgendlichen „Mmm“ wird ein „Guten Morgen, alle miteinander“. Das „Mach mal hurtig“ mutiert zum „Keine Panik, das bringt nur Herzbeschwerden“.

Lustig ist es beim Tanken. Mit der Pächterin der Tankstelle habe ich vereinbart, dass ich mich nur bemerkbar machen muss, dann kommt sie heraus und hilft mir beim Tanken. Heute sitzt eine andere an der Kasse. Gar keine hässliche. Die mich genau so wenig kennt, wie ich sie. 

Die Telefonnummer von der Tankstelle wollte ich schon lange ins Handy programmieren. Die wär jetzt schon hilfreich. Hab ich aber nicht. Mal sehen. Ich lasse das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. Das ist der Nachteil bei getönten Scheiben. Manchmal muss man eben doch mehr sehen. Jetzt sieht mich auch die Dame an der Kasse. Ihrem Gesichtsausdruck nach kann sie mit der Situation nicht allzu viel anfangen. Ist schon klar, da fährt einer an der Tanke vor, steigt nicht aus, sondern macht das Fenster auf und guckt. Lassen wir ihn mal gucken, da stehen Kunden und wollen bezahlen. Vorsichtig tippe ich leicht die Hupe an. Ihr Kopf ruckt herum. Fast kann man es im Klartext auf ihrem Gesicht lesen. „Was will denn der Doofkopp? Also entweder der steigt jetzt aus und tankt oder macht die Säule frei.“ 

Ich setze mein Ich-Tue-Dir-Nichts-Lächeln auf und ziehe dazu noch die Augenbrauen hoch. „Ich möchte gerne Kontakt aufnehmen.“ Dazu winke ich, mache das Zeichen für „kommen“.

Sie lächelt und winkt zurück.

Ich winke noch einmal, intensiver, „Würden Sie bitte mal herauskommen?“ soll das heißen. Ihr Gesicht sagt jetzt ganz deutlich: „Heh, Kollege, Du siehst doch, dass ich hier an der Kasse sitze und nicht weg kann.“ 
Ich schiebe die Unterlippe vor, ziehe die Brauen zusammen. „Ach bitte“. Jetzt merkt sie, dass da etwas nicht stimmt. Sie steht auf und kommt zu mir heraus. 
„Guten Tag, vielen Dank, dass Sie heraus gekommen sind. Ich würde gerne etwas Benzin kaufen.“ Ich kann nicht aus meiner Haut, muss einfach noch einen drauf setzen. Sie holt Luft, um „Tun Sie's“, oder etwas in der Art zu sagen. Diesmal bin ich schneller. „Leider ist das nicht so einfach, ich sitze nämlich im Rollstuhl.“ Glatt gelogen, ich sitze nämlich in einem von außen ganz normal aussehenden Fahrersitz. Aber der Rollstuhl steht unübersehbar schräg hinter mir. Auf ihrem Gesicht ist schön zu erkennen, wie sich die Situation in Wohlgefallen auflöst. „Aber klar, natürlich, ich schicke Ihnen sofort meinen Kollegen. Ich müsste nämlich eigentlich an der Kasse bleiben.“ 

Eine viertel Stunde später rolle ich mit vollem Tank zu Hause auf den Hof. Die ungewohnte Helligkeit löst in mir einen Bewegungsdrang aus, ich erkenne mich ja kaum wieder. Unsere Jugend hat inzwischen die Rollläden auf Halbmast gesetzt. Die heben heute einen Battle, also eine Art virtuellen Wettkampf in ihrem Computerspiel, da wäre das bisherige Zwielicht natürlich viel passender. Sie sitzen konzentriert vor ihren Bildschirmen. Ihre Mannschaft ist über halb Deutschland verteilt. Irgendwo auf der Welt sitzen ein paar junge Leute genau so da und sind die gegnerische Mannschaft. Es kann sogar sein, dass einer der Gegner in unserer Straße sitzt, während ein Partner, der auf dem Bildschirm neben her läuft womöglich in Finnland seine Computermaus malträtiert. Während wir uns noch über den Begriff 'Globalisierung' die Köpfe heiß reden, haben unsere Kinder das Konzept schon längst verinnerlicht und umgesetzt. Die Revolution frisst ihre Kinder.

Aber mich hält nichts drinnen, ich muss raus. Zur Sicherheit ziehe ich noch eine Trainingsjacke an, im Schatten ist es nämlich noch ganz schön frisch. Dann rolle ich zum Hoftor heraus. Meine Hände dreschen auf die Greifreifen ein. Zwei mal rechts, ein Mal beide, der Weg fällt leicht zur Straße hin ab. Nach ein paar hundert Metern brennen schon die Arme. Na klar, ich konnte ja die ganze Zeit nichts machen, jetzt protestieren natürlich die Muskeln. Als ich am Waldrand ankomme schreien die Zeter und Mordio. Ich halte an, die Lunge geht wie ein Blasebalg. Ein Schluck aus der Wasserflasche kühlt die trocken gewordene Kehle. Ja, der Winter war lang. Die paar Meter lassen mich aussehen, als wäre ich Barfuß über die Alpen marschiert. Und der eine sonnige Vormittag lässt jetzt nicht auf Kommando den Sommer ausbrechen. Aber es war notwendig. Ich wende und fahre in gemächlichem Tempo wieder zurück, jetzt nicht gleich übertreiben. Das war nur ein kleiner Vorbote, der Winter ist noch lange nicht vorbei. Der intensive Geruch des feuchten Waldbodens erfüllt die Luft, schwer, erdig. Einige Pfützen, durch die ich auf dem Herweg gefahren bin haben einen richtigen weißen Rand. Das ist bestimmt das Streusalz, das von der Straße hierher geschleudert wurde und sich in den Senken angesammelt hat. Meine Radlager wird es freuen, die werden sich bestimmt auch bald zu Wort melden. Ich passiere den Waldrand, komme wieder in die Sonne. Ach, habe ich das vermisst! Die ersten Vögel machen sich Mut und lassen ihre Stimmen hören, erst zaghaft, so nach und nach werden es mehr und mehr. 

Den Nachhauseweg genieße ich. Gut, das war jetzt mehr eine Bewegungsübung, mal sehen, ob die Abläufe noch stimmen. Mit Sport hatte das nichts zu tun. Das sollte es auch gar nicht. Ich musste einfach bloß raus. Es hielt mich nichts mehr im Haus. Jetzt werde ich ganz gemütlich im Windschatten auf unserer Terrasse einen Kaffee trinken, mit einem großen Stück Kuchen der kleinen Bewegungsübung von eben den Garaus machen und gemeinsam mit meiner liebsten Kaffeetante den letzten paar Sonnenstrahlen Referenz erweisen. Anschließend werde ich meinen Vorderrädern, die mir auf den letzten Metern ein kleine Liedchen gesungen haben, eine kräftige Portion Sprühöl in die Lager spendieren. Von mir aus kann es morgen wieder Zwielicht geben. Sogar mit „ausses Licht und zue Fenster“, wie mein Cousin sagen würde. Jetzt halte ich das wieder aus.

Ich weiß es wieder. 

Der Winter dauert nicht ewig.