Ein Stück Luxus

Meine liebste Küchenchefin kommt mit betretenem Gesicht von unseren Hausärzten zurück. Unsere Hausärzte, das ist ein junges Ehepaar, die vor ein paar Jahren die Praxis unseres alten Hausarztes übernommen haben, als dieser starb. Für unseren alten Hausarzt war immer der Patient als Mensch die Hauptsache. Wenn er mit der Schulmedizin nicht weiter kam, dann hat er gerne auch mal eine alternative Methode versucht. Ob das Akupunktur war, Homöopathie, oder einfach mal ein Gespräch, was hilft, wird genommen, so einfach ist das. Mit den Krankenkassen lag er eigentlich ständig im Clinch. Diese Mentalität und auch den Blick über den Tellerrand haben seine Nachfolger beibehalten und dazu noch einiges Neue dazu gepackt, auch die Schulmedizin entwickelt sich schließlich weiter. Wenn es sein muss, dann können die zwei aber auch ziemlich rigoros sein. Meine Zimmerlinde haben sie prompt aus dem Rennen genommen - totale körperliche und geistige Erschöpfung. Sie hat sich in den letzten Tagen nicht so besonders gefühlt, hat heimlich öfter mal ne Träne verdrückt, damit es keiner merkt. Aber irgendwann ist einfach Sense, wir sind eben keine Maschinen, bei denen man eben mal ein Teil austauscht und dann brummt das Ganze wieder. 

Ja, was so eine Hausfrau und Mutter ausmacht, merkt man immer erst, wenn sie mal nicht da ist. Zum Glück ist unsere noch da - und managt uns jetzt von der Couch aus. Familie ist schon ne feine Sache, jetzt müssen wir eben mehr ran. Ziemlich schnell merken wir, was alles geht, wenn man muss. Auch im Rollstuhl geht so einiges. Was nicht geht, macht entweder unsere Jugend oder mein Pflegeteam. Das Pflegebudget ist zwar sowieso schon knapp, aber irgendwie muss es gehen. Wichtig ist, dass unsere Familienmanagerin wieder auf die Hufe kommt.

Da trifft es sich günstig, dass es im Nachbarort eine Hausbrauerei gibt, die für die Feiertage einen Brunch anbietet. Das macht zwar inzwischen jede zweite Kneipe in der Gegend, aber das soll etwas ziemlich Spezielles sein. Ein langes, ausgedehntes Frühstück, das dann ins Mittagessen übergeht und keiner muss kochen und abspülen, das ist doch genau die richtige Medizin. Eigentlich sprengt das ja unser Haushaltsbudget, aber was Peer Steinbrück im Großen kann, das sollten wir im Winzigen doch auch hinbringen. Ein bis zwei mal im Jahr ein kleines Stückchen Luxus.

Und so stehen wir vor der kleinen Kneipe im Nachbarort, die nach einem kleinen Lurch benannt ist. Wir sind ein bisschen früher dran. Erstmal brauche ich ja immer besonders viel Parkplatz und bis ich ausgestiegen bin, das zieht sich. Glück muss man haben, direkt vor dem Lokal ist frei und der Bürgersteig sieht auch breit genug aus, dass ich meinen Lift ausfahren kann. Ich lasse unsere Jugend aussteigen und transferiere in den Rollstuhl. Mit fröhlichem Piepen fährt der Lift aus. Mist! Ich habe nicht daran gedacht, dass hier die Gehwege ziemlich steil zur Straße hin abfallen. Da fließt zwar schnell das Wasser ab, aber für Rollstuhlfahrer ist so ein Gehweg nicht unbedingt eine Freude. Da heißt es, mit einer Hand den Rollstuhl antreiben, mit der anderen Hand bremsen. Da fährt man lieber gleich auf der Straße. Das wäre nicht so schlimm, wir stehen ja fast direkt vor dem Lokal. 

Das häßliche Kratzgeräusch aber, das die Liftplattform plötzlich von sich gibt sagt ziemlich deutlich, dass auch dieser Gehweg einen suboptimalen Winkel hat. Na Super! Inzwischen haben ein paar Radfahrer ihre Räder direkt dort hin gestellt, wo mein Lift ankäme, wenn ich ihn voll ausfahren könnte. Die geöffnete Schiebetür mit dem Rollstuhlsymbol und der Bitte, Abstand zu halten, wird ignoriert. Geht uns doch nix an! Diese weltweite Fehde zwischen Radfahrern und Autofahrern geht mir schon lange auf den Wecker. Die hier sind besonders dreist. Egal, ich stehe zu nah am Rand und muss jetzt irgendwie das Auto vom Bordstein weg bekommen. Meine liebste Beifahrerin steckt den Kopf zur Schiebetür herein. “Was machen wir den jetzt?” Die Situation ist aber auch zu skurril. Ich sitze im Rollstuhl hinten im Auto und schaue durch die geöffnete Schiebetür auf die halb ausgefahrene Liftplattform, die auf dem Gehweg aufsitzt. Die inzwischen zu Gaffern mutierten Radfahrer glotzen zur Tür rein und bewegen sich keinen Millimeter. 

Hilfsangebote? 

An den verhassten Klassenfeind?

Eher friert die Hölle ein!

Ich fahre im Rollstuhl erst einmal so weit auf die Fahrerseite zurück, wie ich kann, damit durch die Gewichtsverlagerung die Liftplattform wieder frei kommt. In der Zwischenzeit hat meine liebste Pannenhelferin die Metallplatte demontiert, die vor den Pedalen sitzt und sich auf den Fahrersitz gezogen. 
Die Liftplattform schwebt jetzt einen knappen Zentimeter über dem Gehweg. 
“Würden Sie bitte etwas Platz machen?” Meine Bühnenstimme klang schon höflicher, aber diese einzementierten, ausdruckslosen Gesichter da draußen, sind Gift für meinen Blutdruck. Keine Reaktion, ich habe eigentlich auch gar keine erwartet. 
“Fahr bitte langsam rückwärts und schlage links ein.” Na bitte, so eine laut piepende Liftplattform, die auf einen zu kommt, die bringt sogar den eingefrorensten Gaffer dazu sich knapp einen viertel Millimeter zu bewegen. Mehr brauchen wir auch nicht. “Jetzt fahre bitte vorwärts einen leichten Bogen.” Auf die Art kommen wir ein paar Hand breit vom Gehweg weg. Nur dumm, dass die Schiebetür beim Bremsen auslöst und versucht, sich wieder zu schließen. Weiter, als bis zur Liftplattform kommt sie aber nicht. Als die Elektronik den Widerstand merkt, schaltet sie sofort ab. Das Auto steht wieder. Ich rolle zur Schiebetür. Sie lässt sich leicht wieder auf schieben. So ein Fall ist im Programm des Bordcomputers vorgesehen, merke ich. Beim nächsten Versuch fährt die Liftplattform ganz aus, so dass ich mit dem Rollstuhl drauf fahren kann. Die Sicherungsplatte vorn öffnet sich mit einem leisen Miauen. Das muss ich demnächst in der Werkstatt sagen, auf den letzten Zentimetern hört sich mein Lift immer an, als würde ich eine Katze platt drücken. Nicht, dass ich mal von militanten Tierschützern an die nächste Straßenlaterne verfüttert werde. Es reicht schon, dass mich die Greenpeacer immer, wenn ich am Strand liege, ins Wasser rollen wollen...

In der Zwischenzeit hat das Lokal aufgemacht. Mein Auto steht jetzt zwar einen knappen halben Meter vom Straßenrand weg, aber das geht nicht anders. Können wir gleich mal testen, was die lokalen Ordnungshüter so über die europäische Parkkarte für Behinderte wissen.

Die zwei Stufen vorm Eingang sind schnell überwunden. Inzwischen weiß jeder in der Familie, wo er hin greifen muss. Direkt am Eingang ist ein Ecktisch für uns reserviert, an den ich problemlos ran fahren kann. Das Brunch-Buffet ist aufgebaut, man legt noch letzte Hand an. Das sieht mal alles ziemlich lecker aus. Bloß der Platz, der könnte Probleme machen. Wenn ich da mit dem Rollstuhl rein fahre, wirke ich, wie ein Korken in der Flasche. Noch sitzen alle, das Buffet ist noch nicht eröffnet. Prima, dann kann ich mir alles anschauen, mache mir im Kopf Notizen. Schlimmstenfalls wird mir meine Familie eben etwas mitbringen.

Jemand klopft an ein Glas, der Geräuschpegel sinkt. Der Wirt erklärt, was es so für Besonderheiten gibt. Bärlauchcremesuppe, Lachshäppchen auf Kartoffelpuffer, Variationen von Meeresfrüchten, ...

In der Pfütze hinter meinen Zähnen kann man das Seepferdchen-Abzeichen machen und wir sind erst bei der Vorspeise. Die nächsten Worte holen mich in die Realität zurück. “Werte Gäste, Ihnen ist bestimmt aufgefallen, dass wir heute einen Rollstuhlfahrer unter uns haben. In Anbetracht der Platzverhältnisse schlage ich vor, wir lassen ihn zuerst wählen, dann ist er aus dem Weg.” Hut ab, das hat er elegant gelöst. Ich mag es zwar nicht, wenn um mich so ein Aufhebens gemacht wird, aber der Einfall hat Charme. Er nickt mir auffordend zu. So etwas lasse ich mir nicht zwei mal sagen. Ich schnappe mir einen Teller und rolle los. Davon eine Kleinigkeit, hiervon ein bisschen. Es gibt nicht viel, was den Entscheidungsfindungsprozess mehr beschleunigt, als eine Meute knurrender Mägen, die nur mühsam von ihren Besitzern im Zaum gehalten werden. Ich rolle so schnell zu unserem Tisch zurück, dass ich beim Wenden eine Handtasche vom Stuhl fege. Meine Tochter schaut ganz grimmig, sie hat bestimmt auch schon einen Bärenhunger.

Der Wirt entschuldigt sich noch einmal für die Verspätung. Der ist aber extrem harmoniesüchtig. Das diese Entschuldigung einen ganz anderen Grund hat, das soll ich gleich erfahren. Meine Familie kommt ohne größere Blessuren aus dem Getümmel zurück, die Teller angemessen gefüllt. Als ich sehe, was manche andere auf ihre Teller türmen, kommt mir der Verdacht, dass wir das Prinzip nicht ganz verstanden haben. Anscheinend geht es hier darum, in kürzester Zeit so viel, wie nur irgend möglich ist, in sich herein zu schaufeln. Eine kommt mit verbissenem Gesicht an unserem Tisch vorbei, ihre zarten 130 Kilo auf einen knappen Meter 60 verteilt, das Ganze in ein neckisches kanadisches Holzfälleroutfit gezwängt. Auf zwei großen Hauptspeisetellern balanciert sie Schnecken im Blätterteig, Lachslasagne, einen kleinen Berg Shrimps und was sich da noch so erbeuten lies. Als unsere Tochter sie sieht, wird ihr grimmiges Gesicht noch einen Ton dunkler. Als ich einsam meine Runde ums Buffet drehte, hat genau dieser jetzt so voll beladene Schleppkahn sich lautstark darüber beschwert, warum denn ‘so einer’ sich da einfach vor drängen darf und alle anderen aufhält. Meiner liebsten Tischnachbarin bleibt fast der Bissen im Hals stecken. Als sie wieder Luft bekommt, meint sie: “Zu mir hat sie gesagt, nehmen Sie sich ruhig alle Zeit, die Sie brauchen.” Jetzt weiss ich, warum der Wirt sich noch einmal entschuldigt hat. Mein Blutruck macht sich bereit, die Skala zu sprengen. Nö, davon lasse ich mir doch nicht den Tag versauen. Nicht bei diesem Wetter und vor Allem nicht bei DEM Essen. Die Woge der Hungrigen hat sich wie ein Tsunami durch den Raum gewälzt, momentan herrscht Ruhe. Prima, da können wir eine neue Runde drehen. Diesmal machen wir es anders. Ich bleibe sitzen - blöde Formulierung. Ich bleibe am Tisch und jeder, der sich etwas holt, bringt mir einfach eine Kleinigkeit mit. Das kommt mir sehr entgegen, so werde ich gleichmäßig mit den wundervollsten Kleinigkeiten versorgt. Immer, wenn ich ein, zwei Bissen genossen habe, landet wieder eine andere Köstlichkeit auf meinem Teller. So kann es weiter gehen, bis zum Abend. 

Von den Hauptgängen koste ich nur. Inzwischen verbreitet sich das Gerücht, wem beim Essen ein Knopf abplatzt, der muss nur die Getränke bezahlen. Juckt mich nicht. Ich trage Stretch. Am Nebentisch unterhält man sich darüber, dass am Weihnachtsbuffet eine Dame aus ihrem Kostüm geplatzt sein soll. Die meisten Gäste halten es übrigens so, wie wir. Sie holen sich ein bisschen hiervon, ein wenig davon, stellen sich lieber ein paar mal mehr an. Bis auf die üblichen Ausnahmen. Die, die immer übertreiben müssen, die die sich mokieren, wenn sie nicht als erste wie ein Braunkohlenbagger “Meter machen” können. Hauptsache viel. Meistens sind das auch die selben, die sich beschweren, wenn ‘so welche’ im gleichen Lokal essen möchten. Aber wehe, sie bekommen wegen ihres gewichtsbedingten Diabetes 10% Schwerbehinderung. Das sind dann die behindertsten Behinderten überhaupt. Die Armen. 

Eins muss man dem Wirt lassen, das ist kein Buffet, wie es viele Lokale anbieten. Da steckt viel Liebe zum Detail drin. Und auch der Mut, einmal die ausgefahrenen Wege zu verlassen. Die allseits gequälte, mit Käse überbackene Ananas, die halben Eier, mit Seehasenrogen gefüllt, die vermisse ich überhaupt nicht. Dafür wäre ich nie auf die Idee gekommen, zart geräucherten Lachs auf Kartoffelpuffern anzurichten. Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, habe ich dieses Geschmackserlebnis wie einen Flashback wieder auf der Zunge. Das ist der Unterschied zwischen dem Erwärmen von Essbarem und Kochen. Leider ist auch wenn man von allem oder vielem nur probiert irgendwann die Fassungsgrenze des menschlichen Magens erreicht. Die sich aber als Richtwert erweisen kann, wenn der Nachtisch aufgefahren wird. 

Langsam habe ich das Gefühl, nie wieder etwas essen zu können. Das Schlachtfeld liegt in Trümmern. Nur noch ein paar Quantitätsbewusste irren verzweifelt zwischen Amarettomousse und Mandelparfait umher. Während meine liebste Tischgefährtin sich um die Details kümmert, lasse ich mir die Stufen herunter helfen. Mein Lift fährt heraus, senkt sich ab und das war’s. Die Sicherungsklappe bewegt sich keinen Millimeter. Der krönende Abschluss eines ansonsten traumhaften Vormittags. Unser Sohn denkt kurz nach, grinst, stellt sich auf die Liftplattform. “Probier nochma” Und schon fährt die Klappe herunter. Irgendwo miaut eine Katze in höchster Not. Unser Sohn murmelt etwas von ‘Winkel’ und ‘Gewicht’. Ist schon ein pfiffiges Kerlchen, der Lange.

Langsam wird es Zeit. Katheterzeit.

Schön war’s und richtig lecker. Jetzt habe ich doch nur gekostet, noch nicht mal von Allem. Trotzdem bin ich froh, pannensichere Reifen an meinem Rollstuhl zu haben. 

Als wäre ich einer von ‘denen’...