Check-Up

Es ist Zeit für meinen jährlichen Check-Up. Meinen Lehrgangsteilnehmern habe ich für den Vormittag eine Übungsaufgabe gestellt, bis zum Mittag sollte ich eigentlich durch sein. In der Zwischenzeit betreut sie ein Kollege. 

Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, zurück in die Spezialklinik für Querschnitte zu kommen. Der Ausdruck: „Gemischte Gefühle“, geistert mir durch den Sinn. Gemischte Gefühle – wenn deine Schwiegermutter in deinem neuen Auto über die Klippe fährt. Oder wenn du freiwillig in die Querschnittsklinik zurück kommst. Sicherheitshalber fahre ich ein bisschen früher los. OK, ich bin ne gute Stunde früher, aber die Reparatur der Rheinbrücke ist noch im vollen Gange. Außerdem, vielleicht komme ich ja ein bisschen früher dran. Ich möchte meine Klasse nicht allzu lange alleine lassen. Und einen Parkplatz mit zweieinhalb Meter Platz rechts ist auch nicht immer leicht zu finden. Das letzte mal bin ich mit dem Fahrschulauto her gefahren. Das war auch lustig. Ich musste ja den Führerschein neu machen und mein Fahrlehrer hatte mit der Klinikleitung irgendwas zu besprechen. Diesmal fahre ich selbst. Navi? Ich doch nicht. Hallo, ich habe schließlich gelernt, wie man eine Karte liest. Á propos Karte – vielleicht hätte ich mir besser eine Wegbeschreibung ausgedruckt. Quickquack, als alter Trapper brauch ich doch keine Wegbeschreibung. 

Die Autobahn ist wie immer knallvoll. Bei den Steigungen ist extra eine LKW-Spur eingerichtet. Ich quäle mich mit fast 42 km/h hinter einem holländischen Blumenlaster her, der einen Sattelschlepper überholt. Der Sattelschlepper versucht gerade, an einem Rosthaufen vorbei zu kommen, der eine fette, blau-schwarze Qualmschleppe hinter sich herzieht. Den würde ich sogar mit dem Rollstuhl packen. Im Rückspiegel habe ich den Kühlergrill eines Tankwagens. Wenn ich jetzt meine Hose hinten raus hängen könnte, der würde sie mir glatt noch bügeln. Jetzt bräuchte ich hinten solche Fender, die die Schiffer immer zwischen Schiff und Kaimauer hängen. Dann könnte ich meinen 130 Pferden mal ein bisschen Ruhe gönnen und mich vom Hintermann den Berg hoch schieben lassen. Nee, dieses Stück Autobahn ist nichts für zart Besaitete. Zum Glück ist die Ausfahrt nicht weit hinter der zweiten Steigung. Der Rest vom Weg ist ausgeschildert. Na klar, das ist ein riesengroßer Klinik-Komplex mit Berufsförderungswerk, Pflegeschule und allem, was dazu gehört. Einer der größten Arbeitgeber in der Region. Mit Rollstuhlfahrerparkplätzen direkt vor der Tür. Auf denen sogar gelegentlich ein Rollstuhlfahrer parkt. Früher hat es mich aufgeregt, wenn Menschen, die auf ihren funktionierenden Beinen ruhig mal ein Paar Meter laufen können die Behindertenparkplätze zu parken. Heute bringt es mich bloß auf die Palme. Ich stelle mich dann gerne mal hinten dran und lasse mir richtig Zeit für einen korrekten und ordnungsgemäßen Transfer. Dabei entwickeln sich oft so nette Gespräche. 

„Hallo, Sie stehen hinter mir.“

„Kann nicht sein, ich bin seit Jahren nicht mehr gestanden.“ 

„Ja, aber ich muss dringend weg.“

„Und ich muss dringend da rein“

„Ja, aber Sie können doch nicht...“

„Ich kann, ich hab ne Sondergenehmigung.“

Die Zeit, die ich brauche, um wieder einzusteigen, in den Fahrersitz zu transferieren und so viel Platz zu machen, dass der andere raus kann, ist stark abhängig davon, wie die Leute dann reagieren. Bei einem ganz unverbesserlichen Handelsvertreter für Reha-Zubehör(!) habe ich mal argumentiert, ich habe mich deswegen so hingestellt, dass der Abschleppwagen nicht vergeblich kommt. Ich hätte nie geglaubt, dass ein menschliches Gesicht so rot werden kann. 

Auch diesmal sind die Behindertenparkplätze direkt vor der Tür besetzt. Ein Elektriker, ein Aufzugsmonteur und ein PKW-Anhänger. So geschickt hingestellt, dass alle vier Parkplätze blockiert sind. Aber gegenüber ist etwas frei, sogar mit genug Platz, dass ich den Lift ausfahren kann. Für diese Fälle habe ich mir ein großes Schild gemacht, auf dem das Rollstuhlfahrerlogo und ein Bild von einem Auto mit ausgefahrenem Seitenlift drauf sind. Darunter steht: „Bitte 2,50m Platz lassen“. Das Schild klemme ich mir meistens ins rechte Seitenfenster. Letztens habe ich, weil es so heiß war, mal ausprobiert, ob ich wirklich von außen mit der Fernbedienung im Zündschlüssel die Fenster aufmachen kann, wie es in der Bedienungsanleitung steht. Geht prima. Seitdem habe ich in der Seitenverkleidung der rechten Tür, so zwischen der Fenstermechanik und dem Fenster, ein ganz liebevoll gemachtes Schild stecken. Na ja, das Auto muss ja demnächst zur Inspektion ...

Die Sekretärin in der Paraplegiologie kennt mich wirklich noch, begrüßt mich mit Namen, Hut ab. Klar, ich habe heute einen Termin, also weiß sie auch, dass ich komme. Aber bei wie vielen Gelegenheiten heißt es: „Und sie sind?“ oder „Wie war noch Ihr Name?“ Derselbe, wie beim letzten Mal. Nein, sie ist so professionell, dass sie den Namen auf ihrer Liste die Gesichter zuordnet. Und wenn sie mal einen vergisst, dann lässt sich aus der Uhrzeit auf den passenden Namen schließen. So hat sie eine beeindruckende Trefferquote. Und so eine Liste ist nicht wirklich gemogelt. Bei so vielen Gesichtern täglich darf man auch mal ein Hilfsmittel benutzen.

Der Chef kommt gleich, ich kann entweder auf dem Gang warten oder kurz die Station besuchen. Dann mach ich das doch. Kaum biege ich um die Ecke, schon höre ich meinen Namen und finde mich in ein paar um mich gewickelten Armen wieder. Ein paar der Schwestern auf der Station habe ich auf einem Fest getroffen. Die kennen mich ja buchstäblich in- und auswendig. Und so mal nicht als Pflege / Patient sieht man sich mit anderen Augen. Stellt fest, dass man sich sympathisch ist, vielleicht sogar sehr sympathisch. Stellt fest, dass man, wäre man nicht verheiratet oder verlobt, diesen Gedanken sicherheitshalber nicht zu Ende denkt. Gegenseitige Sympathie ist ein sicherer Boden, ungefährlich. 

„Schön dass de auch ma wieder do bischd“, saust grinsend „de langhoarische Bombeleger“ an mir vorbei, wie immer im Tiefflug. Vielleicht hat er nachher mehr Zeit. 

Die nächste herzliche Begrüßung lässt nicht auf sich warten. Eine, die mich total beeindruckt hat. Einmal hat sie mir damals in bei meinem Nierenproblem den richtigen Tipp mit auf den Weg gegeben, nämlich mich an einen ganz bestimmten Arzt zu wenden. Eine tolle Frau, die ihren Urlaub nutzt, um in einem afrikanischen Kinderkrankenhaus als freiwillige Helferin den Kindern die Angst zu nehmen.

Irgendwie ist die ganze Truppe so drauf. Klar, wenn man den ganzen Tag mit frisch produzierten Querschnitten zu tun hat, die ganze Palette an Verzweiflung, Hoffnung, Entsetzen, Schmerz in Höchstdosierung um die Ohren gehauen bekommt. Dabei nicht abzustumpfen, Mensch zu bleiben, echte Herzlichkeit in einer effizient arbeitenden Gesundheitsmaschinerie zu behalten, das kann man nicht lernen, das muss vorher schon da sein. Deswegen freue ich mich immer, wenn ich mal wieder hinkomme. 

Inzwischen hat der Chef schon den in Arbeit, der nach mir kam. Nicht weiter schlimm, ich bin ja schließlich zu früh. Dann nimmt er noch jemand dazwischen, dauert nur fünf Minuten, meint die Sekretärin. Gut geschätzt, vier Minuten später bittet sie mich hinein. Der Chef hat es auch drauf, jedem Patienten das Gefühl zu geben, er wäre besonders wichtig, sein absoluter Lieblingspatient. Ich glaube, das ist es, was einen richtig guten Arzt ausmacht. Bei aller Fachkompetenz, wenn ich bei einem Klinikarzt, der hunderte von Patienten behandelt, das Gefühl habe, bei meinem Hausarzt zu sein, dann stimmt das einfach. „Heute müssen wir uns ausnahmsweise mal beeilen, ich habe gleich einen ganz wichtigen Termin.“ Trotzdem nimmt er sich die Zeit, lässt mich ausreden, untersucht mich ohne Hektik. Diesmal werden wir auf das Abschlussgespräch nach den Untersuchungen verzichten. Wenn er etwas finden sollte, dann ruft er mich an. Schon finde ich mich bei der Sekretärin wieder, die mir den weiteren Untersuchungsplan erläutert. Um elf Uhr Urodynamik, dann Röntgen, ob der ganze Stahlbau noch da sitzt, wo er sein soll, das war es für heute. In der Ergo und der Physio will ich noch mal kurz Hallo sagen, eine Kleinigkeit essen und dann kann ich mich wieder um meine Klasse kümmern. Ein Blick auf die Uhr, noch mal schnell über die Station, vielleicht treffe ich noch jemanden. 

Auf dem Balkon stelle ich mal wieder fest, wie viele vom medizinischen Fachpersonal doch rauchen. Bis zu meinem Unfall habe ich selbst noch geraucht und das nicht zu knapp. Selbst heute, nach mehr als zwei Jahren, könnte ich manchmal noch jemanden für eine Zigarette würgen. Aber dann hätte ich mich so lange vergeblich gequält und das ist es nun wirklich nicht wert.

Bis zur Urodynamik ist es noch ein bisschen Zeit, vielleicht kann ich die Röntgenuntersuchung ja dazwischen schieben. In der Anmeldung ist nicht viel los, auch die Wartezone ist nicht sehr voll. Fragen kostet nichts – und es klappt. Wartezone 1 bitte. Einer steht da mit seinem Rollstuhl, jetzt komme ich noch dazu. 

Ich habe mir ein Hörbuch auf den MP3-Player gezogen und mache mir’s gemütlich. In der nächsten halben Stunde kommen und gehen so einige. Plötzlich schaut der andere Rollstuhlfahrer ganz verdutzt auf den Gang heraus. Ich ziehe mir den Ohrstöpsel raus und höre es auch, da ruft jemand um Hilfe. Schon sausen wir beide mit unseren Rollstühlen den Gang hinunter. Auf der linken Gangseite liegen bettlägerige Patienten in ihren Rollbetten und warten auf die Röntgenuntersuchung. Eine Dame lässt sich gerade ihr Frühstück noch einmal durch den Kopf gehen. Im Liegen ist das gar nicht so einfach, dabei noch genügend Luft zu bekommen. Deswegen sind auch ihre Hilferufe so leise. Der nächste Weißkittel, der vorbei kommt, wird durch ein Hindernis, das aus zwei grimmigen Rollstuhlfahrern besteht hart gebremst. Bevor er sich aufregen kann, lenken wir seinen Blick auf die nach Luft schnappende, die in ihren Bett langsam blau anläuft. Mit routinierten Griffen bereit er ihre Atemwege. Wie durch Zauberei ist plötzlich auch eine Schwester da, die einen Schlauch an die nächste Dose der Sauerstoffversorgung anschließt. Wir nicken uns zu und rollen wieder in die Wartezone. Er schnappt sich eine Zeitung, ich widme mich wieder meinem Hörbuch. Rollstuhlfahrer müssen täglich scheinbar unlösbare Probleme lösen. Meistens aber nicht so dramatische.

So langsam wird mir die Zeit eng, der nächste Termin wartet. Als der letzte aufgerufen wurde, hat man vergessen, die Sprechanlage wieder auszuschalten. So können wir mithören, was da so vor sich geht. „Hast Du der ihre Frisur gesehen? Tiiief aaatmen. Der Frisör gehört eingesperrt. Nicht mehr aaatmen. Hat die denn keinen Spiegel zu Hause? Und weiter aaatmen.“ Der nächste Pfleger, der vorbeikommt wird herein gewunken. „Hören Sie mal.“

Hups“, grinsend will er ins Stationszimmer, Bescheid sagen, dass die Sprechanlage wieder ausgeschaltet wird. „Wenn Sie schon auf dem Weg sind, ich muss gleich in die Uro, soll ich noch mal wieder kommen oder klappt das vorher?“ „Gehn Sie gleich mit, das klären wir.“ 5 Minuten später hieve ich mich mit viel Unterstützung auf den schmalen Röntgentisch. „Tiiief aaatmen – nicht mehr aaatmen – weiter aaatmen.“

In der Urologie wird kräftig gehämmert, gebohrt, sprich: Die Handwerker sind zugange. Vor der Tür ein Schild: Bitte klingeln und ins Wartezimmer setzen. OK, klingeling. Bloß, da, wo sonst das Wartezimmer ist, liegt Folie auf dem Fußboden und es reicht nach frischer Farbe. „Musst Du woanders hin, warte helf isch Dir.“ Eine sehr nette Person, eindeutig keine deutsche Muttersprachlerin zupft sich ihr überdimensionales Kopftuch zurecht. Erst einmal ruht sie sich ausgiebig auf dem Klingelknopf aus. „Ich komme ja schon!“ Der Blick, mit dem sie mich bedenkt, erinnert mich an meine Mathelehrerin, so über den Brillenrand. „Ich hab’s schon beim ersten Mal gehört.“ Ich komme mir vor, als hätte sie mich erwischt, gerade als ich den herunter gefallenen Spickzettel meines Nachbarn aufhebe und ihm geben will, während der Mathearbeit natürlich. Meine Helferin nickt uns freundlich zu und verschwindet. „Entschuldigung, ich habe die Klingel beim ersten Mal nicht gehört und wollte einfach nochmal nachhören. Ob sie überhaupt geht.“ Aber meine Gegenüberin ist bereits mit ihren Gedanken bei meiner Untersuchung. Ihre Kollegin kommt dazu. Die kenne ich noch aus der anderen Klinik. An die kleine Narbe, die ihrem Gesicht so eine freche Note verleiht, kann ich mich gut erinnern. Und wieder erklimme ich einen Röntgentisch. Diesmal bekomme ich erst mal die Blase leer kathedert. Dann wird sie so lange mit einer Flüssigkeit gefüllt, die ein Kontrastmittel enthält, bis der Blasenmuskel von selbst wieder aufmacht. Auf den Röntgenbildern kann man dann die Form der Blase erkennen, sehen, ob sich irgendwo Ausbuchtungen gebildet haben und weiß, wie viel sie halten kann. Mitten in der Prozedur klingelt mein Handy. Einfach ignorieren, das hört von selbst wieder auf. Da ist aber jemand hartnäckig. Die meisten, die meine Nummer haben, wissen, wo ich bin, also muss es etwas Wichtiges sein. Na gut, ich lasse es mir aus der Tasche holen. Meine Kollegin teilt mir mit, dass meine halbe Klasse sich krank gemeldet hat und der Chef daraufhin zur Sicherheit den Rest nach Hause geschickt hat. Nicht, dass sich noch jemand ansteckt. 

So sind sie, meine Chefs. Klar, dass sie den Laden am Laufen halten müssen. Aber wenn es irgendwo klemmt, dann zählt als Erstes der Mensch und dann die Bücher. 

Da kann ich auf dem Heimweg noch beim Friseur vorbei sehen. Ist eh mal wieder nötig.