Ein besonderer Sport

Der meines Wissens einzige Sport, bei dem Behinderte und nicht Behinderte gemeinsam antreten, ist das Bogenschießen. Selbst im Schach bleiben die Behinderten anscheinend unter sich, kürzlich las ich sogar etwas von einer Schachmeisterschaft der Rollstuhlfahrer. OK, vielleicht war es nur ein Gag, aber beim Bogenschießen ist es so. Gut, es kann in unterschiedlichen Disziplinen gewertet werden, aber antreten tun wir gemeinsam. 

Der Vorstand des Bogensportvereins, dem ich angehöre fragte mich vor einiger Zeit, ob ich denn wieder Schießen würde. Na klar, das war und ist mein Lieblingssport. Nun ist die Disziplin „Blankbogen“ nicht so überlaufen, im Gegenteil. Manchmal haben wir sogar Probleme, genügend Schützen für eine Mannschaft zusammen zu bekommen, was ich wiederum nicht verstehe, weil doch eigentlich diese Disziplin noch am nächsten zum ursprünglichen Sport ist. Bogen, Sehne, Pfeil – das war’s, alles weitere ist verboten. Wir haben keine Visiereinrichtung, keine Stabilisatoren. Bogen, Sehne, Pfeil – fertig. Ich höre immer, wenn mal ein Durchgang nicht so besonders lief: „Ja, mein Visier hat nicht gestimmt, mein Stabilisator hat gewackelt, mein Release hat gehakt...“ Wenn ein Blankbogenschütze schlecht geschossen hat, dann hat er schlecht geschossen, so einfach ist das. Und so gibt es auch bei den Bogenschützen eine gewisse Rivalität zwischen den Disziplinen. Klar, das ist menschlich! Irgend ein Feindbild braucht jeder. Im Ernst, es ist doch herrlich, jemanden zu haben, den man so nach Herzenslust durch den Kakao ziehen kann. Und so halten wir diese Rivalität, die aus sportlicher Sicht eigentlich gar nicht mal so schlecht ist, auf einer Ebene, bei der man noch gemeinsam einen trinken gehen kann, schließlich sind wir doch alle Bogenschützen. Ja, und bei den Bogenschützen können Rollstuhlfahrer und Fußgänger durchaus eine Mannschaft bilden. Also habe ich unserem Vorstand versprochen, in der gerade beginnenden Saison gleich aktiv mit dabei zu sein. 

Beim letzten Training, meinem ersten im Alleingang, ohne meine liebste Bogenspannerin im Schlepptau, merkte ich, dass wir trotz meiner Mitwirkung keine Mannschaft zusammen bringen würden. „Lass mich mal ein bisschen telefonieren“, meinte unser Vorstand bloß. OK, ich lass ihn machen und konzentriere mich auf mein Training.

Es ist wie verhext! Normalerweise, wenn ich einen Arm heraus strecke, dann recke ich den anderen in die Gegenrichtung, um mein Gleichgewicht zu halten. Jetzt muss ich aber mit beiden Armen nach links. Das funktioniert so lange, bis ich den Bogen ausziehe. Ist ja auch logisch: Beide Arme nach links, die Bauch­muskulatur ist nicht anzusprechen, schon zieht es den Bogen immer schneller werdend in Richtung Fußboden. Also setze ich ein bisschen höher an und lasse los, wenn ich auf Zielhöhe bin. Nicht gut. Gar nicht gut! Das geht einfach zu schnell. Entweder der Pfeil geht über das Netz oder er schlittert über den Fußboden. Ich überlege, rufe mir die letzten Übertragungen von den Paralympics ins Gedächtnis zurück. Ein Gurt, der mich im Stuhl hält, das wär’s. Tolle Sache, wenn es nicht regelwidrig wäre. Ich versuche etwas anderes. Wenn ich so weit im Stuhl nach vorne rutsche, dass ich fast liege, dann müsste ich mich so halten können. Hätte ich mal in Physik besser aufgepasst, jetzt könnte ich es brauchen. Aber der Bogen hält still. Klar, er steht ja auch auf dem Boden auf. Also - ein bisschen höher. Ja, nicht schlecht, aber jetzt komme ich mit der Sehne ans Schutzblech. Noch ein bisschen höher. Und schon zieht es mir den Bogen wieder herunter. Nach einigen Passen habe ich eine Stellung gefunden, bei der ich den Bogen frei halten kann, ohne beim Schuss aus dem Stuhl zu fallen. Gut, jetzt kann ich mich ans Zielen machen. Aber irgendwie sitzt mein Tab so merkwürdig. Mein Tab, ein Lederstück, das beim Ziehen meine Finger schützt, wird üblicherweise mit einer Gummischlinge über dem Mittelfinger gehalten. Diese Schlinge ist einfach am Tab angeschraubt - oder sollte es wenigstens sein. Meine Schraube ist weg. Bis ich mich bei meinen Vereinskameraden durchgefragt habe, ob jemand noch so eine Schraube übrig hat, ist die Trainingszeit vorbei. Unser Vorstand, ein Compound-Schütze, hat in den Tiefen seines Koffers noch so ein Schräubchen gefunden und es auch Ruck-Zuck an meinem Tab befestigt. Soviel zum Thema Rivalität. Am Sonntag ist Turnier und ich habe versprochen, zu kommen. Na, wenigstens habe ich eine einigermaßen vernünftige Schusshaltung herausgefunden, der Rest wird sich zeigen. Ich bin sowieso gespannt, wie lange ich am Sonntag durchhalte.

Sonntag, mein erstes Turnier nach dem Unfall. Ein wenig klamm ist mir schon. 2 x 30 Pfeile, dazu 12 Pfeile einschießen. Zum Glück verwende ich in der Halle schwache Wurfarme, nur 28 englische Pfund. 28 Pfund auf den Fingerspitzen,das klingt nach recht wenig 14 Kilo, das hebt man doch locker. Soviel wiegt eine Bowlingkugel. Stimmt, aber die hält man nicht 72 Mal am ausgestreckten Arm. 72 mal ziehen, Spannung halten, aber so ruhig, dass der Pfeil nicht zittert. 72 Mal im richtigen Moment los lassen, den Bogen halten, bis der Pfeil getroffen hat. 72 Mal die Konzentration aufbauen, obwohl - die mentale Energie, die dafür erforderlich ist, sollte ausreichen, mal schauen, wie es mit der rein körperlichen Kondition aussieht. Wenn ich einen Durchgang á 30 Pfeile sauber schieße, dann kann ich zufrieden sein. Ach ja, der Bogen selbst, der wiegt auch noch ein paar Kilo. Mhm, hier geht es aber um die Qualifikation zur Kreismeisterschaft. Früher hat es gereicht, anzutreten und einen Pfeil zu schießen. Jetzt muss man schon ein bisschen mehr bringen. Aber ich habe noch Plan B. Wenn mir die Kraft ausgeht, dann rolle ich nach vorne an die Schießlinie, warte die Zeit ab und rolle wieder zurück. Dann habe ich nicht aufgegeben, war nur zu langsam beim Zielen. Da habe ich im Reglement nichts drüber gefunden. Na schaun mer mal...

Ich öffne die hinterste Tür, dort, wo wir sonst trainieren. Normalerweise sind unter der Woche in der Halle Trennwände herunter gelassen, so dass mehrere Sportarten gleichzeitig trainiert werden können. Nicht alle brauchen die ganze Halle und so trainieren Judokas, Tischtennisspieler, Bogenschützen, Turner friedlich nebeneinander in nebeneinander liegenden Segmenten, ohne sich zu stören. Bingo! Heute haben wir die ganze Halle für uns. Ich schaue also auf das Fangnetz, komme hinter den Scheiben hervor und muss einmal längs durch die Halle dorthin, wo alle anderen sich auch aufbauen. Großer Auftritt! Eigentlich hatte ich vor gehabt, mich so ganz nebenbei dazu zu stellen. Ein lockeres „Hallo“, so als wäre ich nur mal ein paar Tage weg gewesen. Wenn bloß keiner klatscht!

Puh, Glück gehabt, wenigstens das ist mir erspart geblieben. Meine beiden Mannschaftskameraden warten schon, haben am Aushang gesehen, wer die Mannschaft komplettiert. Sie freuen sich, mich zu sehen, die Dinge, die ich nicht mehr kann, werden für mich mit gemacht. Selbstverständlich, wie nebenbei, hier bin ich einer, der dazu gehört, nichts besonderes. Räder? Ist mir gar nicht aufgefallen. Ein paar von den Neuen versuchen, nicht allzu sehr zu starren. Nur die Kinder, die sind eben Kinder. Aber sie sind viel zu aufgeregt, da passt die Art von Ablenkung nicht dazu, außerdem habe ich auch einen Bogen, stelle ihn zu den anderen dazu, scheine also dazu zu gehören, das wird wohl alles seine Richtigkeit haben. Jetzt müssen wir erst einmal ein Turnier schießen. Egal ob das jetzt eine kleine Vereins- oder Kreismeisterschaft ist, ein Rundenkampf oder ein Pokalturnier, die Aufregung ist dieselbe für unsere Kleinen. Das mag ich, hier gehöre ich hin! Egal, wie einer aussieht, ob er Räder oder zwei Köpfe hat, er hat einen Bogen dabei, also gehört er dazu. Fertig! Fragen, Kienzle?

Unser Vorstand begrüßt alle, erklärt noch einmal die Regeln. Ich mag seine Ansprachen, die sind ohne großartiges Pathos, er sagt, was Sache ist, dann gibt er die Halle frei, erst mal zum Einschießen.

Wir schießen im Wechsel, erst AB, dann CD. Pro Bahn gibt es ein Gestell, an dem vier Scheiben befestigt sind, die Tafel. Die Scheiben haben die Bezeichnung A, C, B und D. Jeweils zwei Schützen können nebeneinander stehen. Also schießen erst die Schützen, deren Scheibe mit A und B gekennzeichnet sind, danach die Schützen mit C und D. Es stehen also jeweils 20 Schützen nebeneinander. Spannen, Zielen, Loslassen. Mit einem „Plopp“ schlagen 20 Pfeile auf 10 Tafeln ein, eigentlich 20 Plopps. Mal ein bisschen lauter, mal ein bisschen leiser, je nach Bogen. 

Ich habe die Startnummer 10 C, kann also erst mal zusehen. Langsam merke ich, wie mein Adrenalinspiegel sich normalisiert. Das wird auch zeit, schließlich kann ich meine Pfeile ja schlecht ins Ziel zittern. Auch wenn ich manchmal witzele: „Ach, ich spanne den Bogen und wenn das Gelbe vorbeikommt, dann lasse ich einfach los“.

AB ist fertig, jetzt ist CD dran. Ich schnappe mir meinem Bogen, lege ihn auf die Knie und rolle zur Schießlinie. Rechtsdrehung, so dass ich die Linie unter meinem Fußbrett habe, Bremsen zu, Pfeil auf die Sehne, spannen, ausatmen, Luft anhalten, zielen, „PLOPP“. Der Pfeil steckt auf der Scheibe. Geht doch, wer sagt’s denn, dass Buttermilch keine Kraft gibt? Gleich den nächsten Pfeil hinterher – sitzt. Auch der dritte Pfeil trifft die Tafel. Jetzt muss ich nur noch stehen bleiben, bis der Pfeil, den mein Nachbar zur Linken gerade auf der Sehne hat, geschossen ist, rechts von mir steht keiner mehr. Laut Reglement muss man von der Schießlinie weg treten, sobald der letzte Pfeil geschossen ist. Aber es gehört zum guten Ton, dass man stehen bleibt, bis der Pfeil des Nachbarn weg ist, um ihn nicht in der Konzentration zu stören. 

Aber wie stelle ich fest, was der gerade macht? Ich stehe ganz rechts. Wenn ich einen rechten Nachbarn hätte, dem würde ich direkt auf den verlängerten Rücken schauen. Eine Schützin rechts, das ist immer eine richtige Herausforderung an meine Konzentrationsfähigkeit. Ich meine, die steht direkt vor mir und hat den Po genau auf meiner Augenhöhe. Ich bin weder aus Holz, noch bin ich blind, Leute. Zum Glück stehe ich nicht auf Männer, sonst – Wollen wir das Thema jetzt nicht vertiefen, rechts neben mir steht keiner und der linke steht physikalisch hinter mir. Früher war das kein Problem, da hat man nur kurz den Kopf gedreht und geschaut. Aber jetzt schieße ich ja im sitzen. Blöd. Wenn ich mich soweit drehe, dass ich meinen Nachbarn sehen kann, würde ich ihn noch mehr stören, als wenn ich nach rechts weg rolle. Moment mal! Wenn ich mich vorsichtig nach rechts drehe, dann sehe ich die Bogenständer. Der von meinem Nachbarn ist leer, also schießt er noch. In dem Moment taucht er in meinem Blickfeld auf, legt seinen Bogen auf den Ständer. Ich kann also ruhig zur Gerätelinie rollen und meinen Bogen ablegen, ich störe niemanden. Mein Nachbar dreht sich zu mir, „Und?“ „Hab’s doch noch nicht ganz verlernt, sieht ganz gut aus. Aber mal was anderes, kannst Du mir sagen, wenn Dein letzter Pfeil raus ist, ich müsste mich sonst immer ganz rum drehen?“ Er haut sich vor die Stirne. „Da hätte ich ja auch selbst drauf kommen können! Klar, mach ich.“

Bei der nächsten Runde, wir sagen Passe, schießt CD zuerst. Als mein letzter Pfeil raus ist, höre ich hinter mir: „Bin auch fertig.“ Wären nur alle Probleme so leicht lösbar.

Vier Passen einschießen, dann geht’s los. „OK, jetzt gilt’s, Viel Spaß und 'Alle ins Gold'.“ Ist ja mal wieder so richtig redselig unser Vorstand, die kleine Plaudertasche. Wumms, ich bin plötzlich hellwach. „Gehirn an Nebennieren, wir brauchen Adrenalin!“ Mein Unterbewusstsein möchte auch Turnier schießen, fährt die Adrenalinproduktion hoch. Ganz schlechtes Timing, das kann ich momentan überhaupt nicht brauchen. So ein kleines bisschen müde, das ist beim Bogenschießen gar nicht verkehrt, da sind beim Zielen die Hände ruhiger. Ja, das Zielen, das ist beim Blankbogen so eine Sache, wie geht das denn? Ja, das muss jeder für sich selbst herausfinden, da gibt es eigentlich kein Patentrezept. Ich war ja selbst mal Visierschütze, habe lange Zeit Recurve geschossen. Recurvebogen, so wird der olympische Bogen genannt, weil die Spitzen der Wurfarme gegenläufig gebogen sind. Er hat seinen Ursprung im mongolischen Reiterbogen. Durch diese S-Form konnte der Bogen kürzer werden, ohne dass das Zuggewicht weniger wurde. Auf dem Pferd kann man mit einem Langbogen relativ wenig anfangen.

Irgendwann wollte ich etwas neues ausprobieren, habe erst den Compoundbogen versucht. Das ist dieses Hightech-Teil, das man aus den Rambo Filmen kennt. Der Compoundbogen funktioniert nach dem Flaschenzug-Prinzip. Die Rollen am Ende der Wurfarme wirken wie eine Gangschaltung am Fahrrad. So hat ein Compoundschütze beispielsweise 20 Pfund auf den Fingern, während der Pfeil mit 50 Pfund beschleunigt wird. Compoundschützen ziehen die Sehne häufig nicht direkt mit den Fingern, sonder dürfen eine Auslösemechanik, das Release verwenden. Auch ein Vergrößerungsvisier ist erlaubt. Dafür ist die 10 auf der Scheibe nur halb so groß. Wer schon einmal eine Zielscheibe für Sportbögen gesehen hat, wird sich vielleicht gefragt haben, warum es in der 10 noch einen weiteren Ring gibt. Das ist der Compound-Zehner.

Mir war das aber zu viel Technik, also habe ich von meinem Recurvebogen alles abgeschraubt, was nicht Bogen oder Sehne war. Dann habe ich einen Pfeil aufgelegt und geschossen. Aha, viel zu hoch, etwas tiefer, vielleicht noch etwas mehr rechts anhalten. Nach einigen Stunden hatte ich einen ganzen Satz Wettkampfpfeile „geschrottet“. Im Wettkampf verwende ich spezielle Pfeile, die aus mit Karbon beschichtetem Aluminium bestehen. Für das Training, wo man gerne mal etwas ausprobiert, nehme ich normalerweise Aluminiumpfeile, die deutlich billiger sind. Beim Ausprobieren kann schon mal ein Pfeil daneben gehen und auf etwas hartes treffen. Aber an diesem Tag hatte ich nur meine Wettkampfpfeile dabei. Jedenfalls war ein kompletter Satz verschrottet, aber ich wusste ungefähr, wie man beim Blankbogen zielt. Heute weiß ich, wenn ich die Sehne zwei Hand breit unter den Mitte bis zum Kinn ziehe und dann die Pfeilspitze eine Daumenbreite rechts und zwei Daumenbreiten unterhalb der Scheibe ansetze, dann landet der Pfeil in der Mitte der Scheibe. 

Wenn die Entfernung stimmt.

Und die Temperatur und die Luftfeuchte.

Und ich nicht allzu aufgeregt bin.

AB ist fertig mit der ersten Wertungspasse, CD ist dran. Ich rolle zur Schießlinie, drehen, Bremse zu, Bogen leer in Richtung Scheibe halten. Mmmh, rechte Bremse auf, eine Fingerbreite nach rechts drehen, Bogen wieder anhalten, jetzt kommt’s hin. Ich lege den Bogen auf die Knie, rutsche im Rollstuhl noch ein wenig nach vorne, so dass ich fast liege. Das Problem ist, wenn ich mir beiden Händen nach links heraus greife, dann stimmt meine Balance nicht mehr und ich falle aus dem Stuhl. Festbinden darf ich mich nur, wenn ich im realen Leben auch im Stuhl festgebunden werden muss, so sind die Regeln. Wenn ich aber fast liege, dann kann ich mich kurzfristig auch so halten. Sieht zwar extrem behindert aus, funktioniert aber und widerspricht den Regeln nicht. Unser Wettkampfleiter hat mich genau im Blick. Wie ich meine Position mit der Rollstuhlbremse korrigiere, sehe ich sein breites Grinsen. Er kennt mich, weiß dass ich früher oft Probleme damit hatte, immer wieder die Füße jedes mal in genau die selbe Stellung, wie vorher zu bringen. Wer das raus hat, schießt viel gleichmäßiger. Das Problem habe ich jetzt nicht mehr. Bremse zu und stimmt. Jetzt wird es langsam Zeit ein paar Pfeile auf die Reise zu schicken. Die Uhr läuft und die Zeit ist begrenzt. Früher nannte man mich das Maschinengewehr, weil ich extrem kurze Zielphasen hatte. Für einen Bogenschützen ist das nicht unbedingt ein besonders ehrenvoller Name. Jetzt kommt mir das aber zugute. Plopp, der erste Pfeil sitzt, gleich der nächste hinterher. Der sitzt im gelben! „Genau da gehört er hin,“ höre ich von links. „Klack“, mein letzter Pfeil sitzt im Rahmen - ein Holzwurm! Blöd, jetzt habe ich mich von der gut gemeinten Bemerkung meines Nachbarn aus der Konzentration reißen lassen. Aber das war sowieso der dritte Pfeil, die nächste Passe wird besser. Ich weiß, dass ich heute nicht gewinnen kann, dazu bin ich zu lange aus dem Training. Außerdem ist das mein erstes Turnier, seit ich im Rollstuhl sitze. Wenn ich ein dreistelliges Ergebnis zu Stande bringe, dann bin ich vollauf zufrieden, mehr will ich gar nicht.

Vor, Pfeile holen, Ergebnis notieren. Das haben wir mit den Golfspielern gemeinsam, wir schreiben unsere Ergebnisse selbst auf. Wertungsrichter sind zwar da, werden aber erst geholt, wenn etwas unklar ist. Wenn beispielsweise ein Pfeil so in der Scheibe steckt, dass es eine 9 oder eine 10 sein könnte. Ist der aufgedruckte Kreis beschädigt, dann zählt die höhere Zahl. War aber an dieser Stelle schon einmal ein Pfeil, das Loch könnte also auch vom Vorgänger sein, dann holt man den Wertungsrichter. Oder ein Pfeil wird geschossen, wenn gerade die Zeit abgelaufen ist. Ist der Pfeil in der Luft, wenn das Signal ertönt, dann zählt er. Im Normalfall machen das aber die Schützen, die auf eine Scheibe schießen, unter sich aus. Bei kleineren Turnieren haben die Wertungsrichter einen ziemlich ruhigen Job.

Früher habe ich darauf bestanden, meine Pfeile selbst aus der Scheibe zu ziehen. Meine Pfeile und meinen Bogen fasst keiner an, die darf nur ich berühren. Bogenschützen können da sehr eigen sein. Heute brauche ich jemanden, der mir meine Pfeile zieht. Normalerweise müsste der Ausrichter mir einen Assistenten stellen oder erlauben. Bei diesem Turnier sind wir selbst der Ausrichter, da machen das meine Mannschaftskameraden für mich mit. Eigentlich müsste ich noch nicht einmal mit nach vorne rollen. Der Hallenboden ist schön weich, das ist bei „normalem“ Sport eine feine Sache. Für einen Rollstuhlfahrer ist so ein weicher Boden furchtbar Kraft raubend. Einmal zur Scheibe vor fahren und wieder zurück kostet fast genau so viel Kraft, wie eine Passe zu schießen. Aber jetzt packt mich mein Stolz! Hallo, das ist meine Mannschaft, da gehöre ich dazu, natürlich rolle ich mit nach vorne.

Nächste Passe, CD ist dran. Ausrichten, Bogen hoch, Bogen runter, Bremse auf, Korrigieren, Bremse zu, nach vorne rutschen, Plopp, Plopp, Plopp, alle drei Pfeile stecken auf der Scheibe, sind in der Wertung. So kann das weiter gehen.

Nach der zehnten Passe ist erst einmal Pause. So langsam spüre ich meine Arme. Wir zählen zusammen, heh, ich bin jetzt schon dreistellig. 116, früher hätte ich mich mit so einem Ergebnis geschämt, jetzt bin ich begeistert. Die zweite Runde kann ich es ruhiger angehen lassen, dreistellig bin ich schon.

Und schon geht es weiter, kaum, dass ich mein Stück Kuchen verputzt habe. Die Kohlenhydrate brauche ich aber auch. Es ist unglaublich, was das „Bisschen Flitzebogen“ Kraft kostet. Vor, Spannen, Zielen, Loslassen, Pfeile holen, Aufschreiben, zurück -

So langsam kommt das Gefühl für die Geschichte wieder. Fast vergesse ich dass ich der einzige Rollstuhlfahrer in der Runde bin, meinen Mannschaftskameraden geht es ähnlich, das merke ich an ihren Reaktionen. Das ist auch gar nicht so wichtig, wir haben schließlich ein Turnier zu schießen.

Wie, das war die letzte Passe? Der letzte Pfeil wird traditionell mit Applaus verabschiedet. Erst jetzt, als wir alle applaudieren, fällt mir auf, dass ich wirklich das ganze Turnier durch geschossen habe. Komplett, ohne Plan B, ohne dass ich mir meine Pfeile hätte bringen lassen. Ich könnte vor Stolz platzen, für mich ist das ein größerer Sieg, als wenn ich das Turnier gewonnen hätte. Und ich war in beiden Durchgängen dreistellig. Gut, um richtig mit zu spielen, das braucht noch ordentlich Training. Aber ich habe ein ganzes Turnier durchgehalten. Und wir können dieses Jahr auch wieder eine Blankbogenmannschaft melden.

Ich liebe diesen Sport!