gelebte Inklusion

Europawahl! Natürlich habe ich auch, wie hoffentlich ganz viele, mein Kreuzchen gemacht. Besser gesagt, viele Kreuzchen auf ganz vielen Zetteln. Große Zettel, kleine Zetttel, Plakate, Tapeten. Zwei kleine Zettel waren dabei, da standen jeweils nur 2 Namen drauf. 
Dann ganz große mit vielen lustigen Namen.

Was mir gefehlt hat, waren die Würdigen Theoretischen Formalisten.
WTF - passt für einige sogar irgendwie zum Thema.

Auf den Einladungen stand etwas von Briefwahl.
Briefwahl!
Wie öd!
Das macht doch keinen Spaß. Nee ich finde das viel besser, die ganzen Nachbarn im besten Zwirn zu sehen. Manche ganz in schwarz, oder in rot, oder auch in anderen Farben. Einer hatte einen Schal um, rot, gelb, grün, schwarz, blau(?).

Unser Wahllokal ist in der Grundschule. Rollstuhlfahrende Kinder im Grundschulalter waren wohl bisher noch kein Problem. 

Wie es sich für eine ordentliche Schule gehört, hat auch unsere Schule drei imposante Stufen vor dem Eingang.

Da habe ich mich mit meinem Rollstuhl davor gestellt. "Ich möchte wählen!"
Ratlose Gesichter.
"Ich sitz' das aus." 
Eine kannte das flache Wortspiel noch nicht, würde sich zu gerne kaputt lachen, weiß aber nicht, ob ich das falsch verstehen könnte. Bevor ihr das Gesicht zerspringt, platzt doch das Gelächter heraus.

Plötzlich sind viele Menschen da, die mich die Stufen hoch heben wollen, hilfsbereit, willig. Bloß - jeder zieht in eine andere Richtung. Diskussion, wie kriegen wir den ins Wahllokal? Eigentlich wollte ich bloß sehen, was passiert, jetzt bin ich doch beeindruckt von der Hilfsbereitschaft, die eigentlich nur noch kanalisiert werden muss.
"Bringt mir doch einfach den Zettel raus."
Das geht natürlich nicht, die Stimmen müssen in einem ausgewiesenen Wahllokal abgegeben werden, wenn keine Briefwahl gemacht wird.

Nach einiger Diskussion hält mein Sohn es nicht mehr aus. „Jetzt ist gut. Ich will heute wieder heim!“ Sprichts, dreht meinen Rollstuhl nach hinten, kippt mich. „Auf drei - eins, zwei, drei!“ Drei mal geruckt, drei mal kräftig an den Greifreifen gezogen und wir sind oben. Die vielen Helfer müssen zum Teil lautstark gebremst werden. Sie können sich nicht vorstellen, dass so eine kleine Treppe sehr gut mit nur einem Helfer bewältigt werden kann – wenn der Helfer genau weiß, was er tut. 
Oben stellen wir verblüfft fest, dass wir uns in eine Schlange einreihen müssen. Fünf oder sechs Wahlkabinen hat man aufgestellt, trotzdem können die den Ansturm kaum fassen. Und wir sind hier auf dem Dorf. Man hört es aber auch gleich. „Ah, Karl, haschte Dein' Ausweis nit do. Mach nix, schreib ich persönlich bekannt.“ 
Dann bin ich dran. Die Dame, die vor mir in der Kabine war, schiebt selbstverständlich den Stuhl zur Seite. Mein Nachfolger stellt ihn genau so selbstverständlich wieder hin. Hab meinen eigenen Stuhl dabei, da bin ich denn doch etwas wählerisch. 
Aber im Ernst, das beeindruckt mich. Gerade in dieser Kleinigkeit zeigt sich etwas ganz Großes, nämlich eine Änderung in den Köpfen. Kein großes Getue, Stuhl weg, Stuhl hin, war was? Das ist gelebte Inklusion!

Briefwahl?
Ist doch langweilig!